Kreis Pinneberg. Mehr als 30.000 Verfahren offen. Wie für den Kreis Pinneberg eine neue Strafkammer helfen soll, den Berg der Altlasten abzubauen.
Die Strafjustiz steht mit dem Rücken zur Wand. Die Fallzahlen steigen, die Verfahren werden immer komplizierter. Die Folge: Mangels Personal bleibt vieles liegen. Das gilt für die Staatsanwaltschaften, aber auch für die Gerichte.
Das besonders betroffene Landgericht Itzehoe, das auch für die größeren Strafverfahren aus dem Kreis Pinneberg zuständig ist, hat reagiert. „Wir haben eine weitere Große Strafkammer eingerichtet“, berichtet Landgerichtspräsidentin Sabine Wudtke. Mit dieser Maßnahme können seit Jahresbeginn die Verfahren nun auf vier Große Strafkammern verteilt werden.
Gerichte am Limit: Strafkammern sind hoch belastet, Verfahren bleiben liegen
„Die Strafkammern waren sehr hoch belastet“, berichtet Wudtke. Als Folge seien viele Verfahren liegen geblieben. Vizepräsident Dominik Groß, selbst Vorsitzender einer Großen Strafkammer, spricht von einer zweistelligen Zahl von unerledigten Verfahren, die 2022 oder früher zur Anklage gelangt sind. „Auch aus 2021 haben wir sicher das eine oder andere Verfahren hier liegen.“
Dank der zusätzlichen Kammer unter dem Vorsitz von Rebecca Knof, der drei Richter zugeordnet sind, soll die Zahl der Altlasten schrumpfen. Sie hat sich auch deswegen aufgebaut, weil Haftsachen Vorrang haben und daher Fälle, bei denen der Angeklagte nicht einsitzt, zunächst zurückgestellt werden.
Landgericht erhält zusätzliches Personal aus dem Pakt für den Rechtsstaat
Zwei der vier Großen Strafkammern haben Sonderzuständigkeiten. Die Kammer unter Vorsitz von Johann Lohmann fungiert als Schwurgericht, bearbeitet also vorrangig Kapitalverbrechen wie etwa Mord und Totschlag. Die neugebildete Kammer, die von Rebecca Knof geleitet wird, kümmert sich vorrangig um Sexualstraftaten.
Die Schaffung der zusätzlichen Strafkammer wurde möglich, weil das Landgericht aus dem sogenannten Pakt für den Rechtsstaat zusätzliche Richterstellen genehmigt bekommen hat. Neu geschaffen wurden die Stelle eines Vorsitzenden sowie die eines beisitzenden Richters. Parallel dazu wurde ein Besprechungsraum zum Gerichtssaal umgebaut, um zusätzliche Raumkapazitäten zu schaffen.
Zusätzliche Strafkammer führt zu erheblicher Entlastung des Gerichtes
Fünf Monate nach dem Start fällt die Bilanz am Landgericht sehr positiv aus. „Das hat zu einer deutlichen Entlastung geführt“, berichtet Groß. Noch bis Jahresende hätten die vorhandenen Kammern nahezu täglich verhandelt, für andere wichtige Tätigkeitsschwerpunkte wie etwa Urteilsberatungen oder das Verfassen der schriftlichen Urteile habe die Zeit gefehlt.
Dass die Strafrichter am Landgericht immer mehr zu tun haben, verdeutlichen die Eingangszahlen für das vergangene Jahr. 65 erstinstanzliche Strafsachen kamen dort an – 13 mehr als 2022. Zum Vergleich: 2021 wurden 54 Fälle an die Strafkammern überwiesen, 2020 waren es 49.
Annähernd so hohe Eingangszahlen gab es zuletzt zwischen 2012 und 2018. Damals lag die Zahl der erstinstanzlichen Strafsachen bei 60. So hoch wie jetzt waren die Zahlen noch nie. Ähnliches gilt für die Berufungssachen. 149 Eingänge gab es 2023 in diesem Bereich, gegenüber 127 in 2022. Zwischen 2017 und 2020 lagen die Zahlen von Berufungsstrafsachen zwischen 116 in 2018 und 129 im Jahr 2019.
Auch die Gesamtzahl der Strafsachen an den Amtsgerichten ist mit 3046 Eingängen im Vorjahr wieder angestiegen (2022: 2884 Verfahren). Der Kreis Pinneberg verfügt als einziger im Gerichtsbezirk über zwei Amtsgerichte – in Pinneberg sowie in Elmshorn.
Verfahren sind komplexer geworden und benötigen mehr Prozesstage
Doch nicht nur die Zahl der Verfahren steigt an. „Die Verfahren an sich sind komplexer geworden, es werden mehr Verhandlungstage als früher gebraucht“, erläutert Groß. Dies liege vor allem daran, dass immer mehr digitale Beweismittel in die Hauptverhandlungen eingeführt werden müssten, was enorm zeitaufwendig sei.
Ein Problem, das laut Angaben des Schleswig-Holsteinischen Richterverbandes auch die Staatsanwaltschaften im Land betrifft. Laut einer Mitteilung des Verbandes reiche das Personal „hinten und vorne nicht, um Straftaten, die in unserem Land begangen werden, vollständig und zügig zu ermitteln und die Beschuldigten der gegebenenfalls gebotenen Sanktion zuzuführen“, so die Verbandsvorsitzende Christine Schmehl.
Mehr zum Thema Landgericht
- Drei Jahre nach tödlichen Stichen in Elmshorn: War es wirklich Notwehr?
- Prozess vor Landgericht: Nach Messerattacke in Pinneberg – Opfer im Koma
- Landgericht Itzehoe: Angriff auf Angler – Gericht fällt knallhartes Urteil
Laut ihren Angaben waren zum Ende des Vorjahres 31.581 Ermittlungsverfahren gegen namentlich bekannte Beschuldigte offen, in denen also weder Anklage erhoben noch das Verfahren eingestellt wurde. Unerledigte Verfahren, von denen einige nach der Anklageerhebung auch bei den Amts- und Landgerichten ankommen dürften.
Die gehen jetzt in die Informationsoffensive. Eine Zentrale Online Redaktion (ZOR) der Justiz Schleswig-Holstein hat vor kurzem ihre Arbeit aufgenommen. Sie hat die Aufgabe, die Öffentlichkeitsarbeit der Justiz im Internet sowie insbesondere auf den Social Media-Plattformen voranzubringen. Auch Frederike Milhoffer, die Sprecherin des Landgerichts Itzehoe, gehört zu dem derzeit aus sieben Personen bestehenden Team.
Landgericht Itzehoe informiert auf Facebook über Urteile und Rechtsfragen
So ist das Landgericht Itzehoe unter anderem auf Facebook unter der Domain www.facebook.com/LandgerichtItzehoe präsent. Dort gibt es unter anderem alle wichtigen Informationen rund um das Landgericht, aktuell auch einen Schwerpunkt zu 75 Jahre Grundgesetz „Wir berichten dort auch über Verfahren, insbesondere aus dem Zivilbereich“, berichtet Milhoffer. Ein wichtiges Ziel sei es auch, der Desinformation im Netz entgegenzuwirken.
Damit hat das Team der Zentralen Online-Redaktion etwa während des Brokstedt-Prozesses, bei dem es um den tödlichen Messerangriff im Regionalexpress ging, begonnen. Der Angeklagte – er hat inzwischen Revision eingelegt – war zu lebenslanger Haft verurteilt worden, die Kammer hatte die besondere Schwere der Schuld festgestellt.
Bei eventuellen Hass-Postings wird Strafanzeige erstattet
Auf dem Facebook-Account informierte das Gericht etwa darüber, was die besondere Schwere der Schuld genau bedeutet und warum eine Abschiebung des Angeklagten in sein Heimatland derzeit nicht möglich ist. Die Kommentare, die dort hinterlassen werden, werden von der Onlineredaktion überwacht. Milhoffer: „Laufen lassen können wir das nicht einfach so.“ Im Zweifelsfall werde bei eventuellen Hass-Postings auch Strafanzeige erstattet.