Pinneberg/Hamburg. Im Weiße Speiche e.V. sind sehende Radfahrer Piloten für Menschen ohne oder mit geringem Sehvermögen. Was sie 2024 vereint unternehmen.
Der Arbeitsauftrag für Hans Friedrich ist mehr oder weniger klar. Am Lenkrad des Tandems, dem sich der 73-Jährige nun zuwendet, baumelt an einem Gummiband ein kleiner gelber Karton. In großen, schwarzen Lettern ist darauf nur ein anklagendes Wort zu lesen: „DEFEKT“. So ja nun nicht. Mit versierten Griffen und prüfendem Blick inspiziert das Mitglied im Weiße Speiche Hamburg e.V. das doppelsitzige Zweirad der Marke Schauff mit tiefem Einstieg. Denn am kommenden Wochenende soll es einsatzbereit sein.
Hier im Tandemschuppen auf dem Pinneberger Vereinsgelände wartet noch einige Arbeit auf Friedrich und die anderen technischen Helfer des Vereins. Dieser will am Sonnabend, 23. März, offiziell aus seinem Winterschlaf erwachen und dann mit einer Kurztour seine Saison 2024 eröffnen. Die wird dann bis zum 2. November aus insgesamt 29 organisierten Ausfahrten bestehen.
43 vereinseigene Tandems werden ständig intakt und verkehrssicher gehalten
Für die anstehenden Touren müssen unbedingt alle 43 vereinseigenen Tandems wieder verkehrssicher und heil sein, denn rund die Hälfte der 120 Mitglieder des Weiße Speiche e.V. ist blind oder stark sehbehindert. Und nur auf diesem Doppelsitzer mit einem sehenden Piloten können auch diese Menschen die Freude des Radfahrens im Sinne des Wortes wirklich erfahren.
Hans Friedrich ist erst vor zwei Jahren zu dem Schrauberteam dazugestoßen, das Gerätewart Hans Hoesen organisiert. „Ich fahre aber auch gern den Bus oder stehe als Tandemfahrer zur Verfügung; halt alles, was gebraucht wird“, sagt er. Das Gemeinschaftserlebnis, der Spaß am Radfahren und der gute Zweck haben den 73-Jährigen hierher in den Verein geführt.
Tourenleiter Ulli Staniullo ist seit der Vereinsgründung 1984 mit dabei
Viel mehr, nämlich die Idee dahinter, hat Ulli Staniullo den Weg in die Weiße Speiche finden lassen. Der 79-Jährige ist Mitglied der ersten Stunde, also seit 1984, und freut sich wie die anderen Clubmitglieder auf den 40. Geburtstag, den der Verein mit einer Rallye am 16. Juni und einem Wochenende auf der Halbinsel Eiderstedt vom 20. bis 22. September begehen wird. Staniullos Leben würde ohne den Weiße Speiche e.V. deutlich ereignisärmer verlaufen, denn er ist blind.
„Also genau genommen bin ich für den Gesetzgeber blind“, präzisiert Staniullo. „Kontraste, hell und dunkel, das alles kann ich noch ein wenig wahrnehmen.“ Bei Weitem zu wenig, um nicht doch auf Fahrer oder Fahrerin seines Tandems nicht nur aus Gründen der Verkehrssicherheit angewiesen zu sein. „Wer dann vorne sitzt und lenkt, erzählt dann auch, was um uns passiert, woran wir vorbeifahren und welche Besonderheiten da sein mögen“, beschreibt Staniullo die Ausfahrten als Passagier. „Da gibt es halt auch schweigsamere Fahrer, aber mit allen ist das dann eine schöne Fahrt.“
Das Aufsteigen ist gleich die wichtigste Hürde beim Tandemfahren
Doch das Teamwork beim Tandemfahren beginnt schon vor dem ersten Tritt in die Pedale und nicht erst, wenn das Duo unterwegs ist. „Das Aufsteigen ist neben dem schwierigeren Kurvenfahren wegen des größeren Wendekreises der zweite wichtige Unterschied zum Solofahren“, sagt Ulrich Kudlek.
Kudlek ist seit letztem Jahr Vorsitzender von Weiße Speiche Hamburg. Er erklärt: „Während Solofahrer oft die ersten Tritte noch stehend machen, um in Schwung zu kommen, sollten sich Tandemfahrer im Anfahren gleich hinsetzen, dann hast du die Sicherheit.“ Staniullo ergänzt: „Synchron zu sein ist entscheidend, das Anfahren ist wirklich die größte Hürde, die wir auf dem Tandem zu bewältigen haben.“
Ohnsorg-Schauspieler Jasper Vogt hat den Verein 1984 gegründet
Dieses Miteinander und die Möglichkeit, Blinden und Sehbehinderten eine Welt zu eröffnen, die ihnen ohne Unterstützung verschlossen bliebe, waren Anlass und Triebfeder für Jasper Vogt, den Weiße Speiche Hamburg e.V. 1984 zu gründen. Der Schauspieler am Hamburger Ohnsorg-Theater führte den Verein 13 Jahre lang und wurde für seine ehrenamtliche Tätigkeit sogar 1986 als Breitensportler des Jahres ausgezeichnet.
Ein Engagement und Ruf, dem sich die folgenden Vorsitzenden und nun auch Ulrich Kudlek verpflichtet fühlen. Mit 29 Ausfahrten, 18 davon am Wochenende mit unterschiedlichen Längen von 40 bis 120 Kilometern, sowie elf Mittwochstouren sollen die Bedürfnisse aller Mitglieder abgedeckt werden.
Auf dem Vereinsgelände ist der liebevoll in Schuss gehaltene Aufenthaltscontainer der Mittelpunkt
Zwischen den Ausfahrten gehört regelmäßig technischer Dienst auf dem Pinneberger Vereinsgelände in Hafennähe auf dem Programm. Dann steht neben dem Schrauben im und vor dem Tandemschuppen der rotbraun angemalte Vereinscontainer im Mittelpunkt. Sauber wie geleckt ist es darin. Tische, Stühle und eine Küchenzeile haben schon so manch gemütliche Klönrunde bei Kaffee und Kuchen möglich gemacht.
Die monatlichen Klönabende finden allerdings in Hamburg statt. An jedem ersten Donnerstag kommen die Mitglieder im Restaurant Baris, Lerchenfeld 48, zusammen. Dann wird zum Beispiel besprochen, wie kommende Ausfahrten verlaufen könnten. Einen Teil dieser Touren organisiert dann auch Ulli Staniullo, während die Hundertertouren durch Ulrike Gös und die Mittwochsfahrten von Ina Seidel gemanagt werden.
Zum Saisonstart geht es durch die Gegend um Tangstedt und Hemdingen
Der Saisonauftakt an diesem Sonnabend ist allerdings durch die Finger von Ulli Staniullo gegangen. Es geht dieses Mal nicht weit. Die Gegend um Pinneberg und Tangstedt wird erkundet, vorbei am Golfclub Wulfsmühle soll auch der Hofladen in Hemdingen eine Etappe sein. Alles ganz gemütlich.
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Es gibt aber auch Touren, die erst ein ganzes Stück vom Vereinsgelände entfernt beginnen. Dann kommt der große Anhänger zum Einsatz, mit dem die Tandems zum Startort gebracht werden. An diesem Vorbereitungstag bestücken bereits Uwe Röhrs, Kai Wüstermann und Jo Derwisch dieses so wichtige Gefährt mit einer Reihe frisch auf ihre Verkehrstüchtigkeit geprüfter Zweiräder.
Die Blinden und Sehbehinderten sind die Kapitäne des Tandemgespanns
„Wir haben regelmäßig aktive Helfer, die uns auch nur beim Busfahren und in der Technik unterstützen“, sagt Ulrich Kudlek. „Andere stehen uns regelmäßig als Lenker zur Verfügung, ohne dabei Mitglied zu sein. Verpflichtende Mitgliedschaft gilt aus versicherungstechnischen Gründen nur für die Blinden und sehbehinderten Mitfahrer.“ Dafür sind diese aber auch im Sprachgebrauch des Vereins die Kapitäne des Gespanns, die Vorderleute „nur“ die Fahrer.
„Und Fahrer können wir immer gebrauchen, oder Menschen, die uns einfach unterstützen wollen“, betont Ulrich Kudlek., der mit Dankbarkeit registrierte, dass sich ein Kamerateam von Lokalsender noa4 auch zum Saison-Vorbereitungstag des Weiße Speiche e.V. nach Pinneberg bemüht hat, um den Verein und seine Mitglieder vorzustellen. „Wir würden uns sehr über Verstärkung freuen. Vielleicht macht ja unsere Medienpräsenz nun einige Menschen auf uns aufmerksam.“
Der Verein stand in Pinneberg kurz vor dem Aus, da kauften die Mitglieder ihr Gelände
Für kurze Zeit war das ganze Vereinsidyll in Pinneberg in Gefahr. Die Stadt wollte das rund 450 Quadratmeter große Areal an Gewerbebetriebe verkaufen. Kudlek: „Aber dann haben wir eine Umlage gemacht, in kürzester Zeit rund 40.000 Euro zusammenbekommen und dann selbst das Gelände gekauft.“
Wer sich dem Tandemclub Weiße Speiche e.V. anschließen oder helfen möchte, kann sich online unter www.tandemclub.de informieren oder meldet sich gleich telefonisch bei Ulrich Kudlek unter Telefon 0151/178 44 355.