Beim Hamburger Club Weiße Speiche fahren Sehende und Blinde gemeinsam regelmäßig auf einem Fahrradtandem. Weitere Mitglieder gesucht.
Ulli Staniullo (76) spürt die Landschaft. Ob da ein Wald ist, oder ein Knick, eine Heidefläche oder ein See. Mit allen Sinnen nimmt er die Natur wahr. Also: mit fast allen Sinnen. Sehen kann er als blinder Mensch seine Umgebung nicht. Dennoch bricht er regelmäßig auf dem Fahrrad zu Touren in Hamburgs schönes Umland auf – und manchmal auch weiter. Mit dem Tandem, hinten, als „Maschinist“, wie die Clubmitglieder sagen. Da muss man nicht gucken können, nur treten. Und natürlich schnacken mit dem sehenden Piloten vorne. Zur Verständigung und weil es ohnehin nett ist und dazugehört.
Wir treffen den Tandemclub Weiße Speiche in seinem Vereinshaus in Pinneberg. Zwei Container hat er sich 2001 ausgebaut. Alles ist da, Waschraum, Küche, Kaffeemaschine, Kühlschrank mit Bierchen. Hinter einer Sitzbank hängt eine große Straßenkarte von Schleswig-Holsteins Südwesten. Mal schauen, wo es nächstes Mal hingehen könnte.
Bis zu 45 Tandems können gemeinsam unterwegs sein
Besonders beeindruckend aber ist der große Tandemhangar auf dem Vereinsgelände. Hier stehen gefühlt Hunderte Tandems, dicht an dicht. In allen Farben und Größen. „Zur Reparatur“ steht bei einigen auf Zetteln am Lenkrad. „Da muss der Schraubertrupp ran“, sagt Bernd Wülfken (70), Vorsitzender der Weißen Speiche. Wenn die freiwilligen Monteure nicht mehr weiterwissen, dann kommen die Räder zur „Alsterspeiche“, dem Reparaturbetrieb der Evangelischen Stiftung Alsterdorf – „mit denen haben wir seit Jahren eine super Kooperation“.
Okay – es sind tatsächlich rund 45 Tandems. Bei 113 Mitgliedern braucht man die auch alle. Theoretisch. Praktisch fahren so viele gleichzeitig natürlich nicht los. Aber zehn bis 20 Paare, die können es schon mal sein an einem schönen Tag. Normalerweise. In Corona-Zeiten musste die Zahl auf zehn Tandems eingeschränkt werden. Mehr als 50 Prozent der Vereinsmitglieder sind blind oder sehbehindert, die sehenden Vorderleute sind nicht alle Mitglied, müssen sie auch nicht sein. „Es wäre schön, wenn wir noch mehr Piloten hätten“, sagt Bernd Wülfken.
Ein vollkommen inklusiver Sport
1984 wurde der Verein von dem Schauspieler Jasper Vogt gegründet, der einen Weiße-Speiche-Club in Frankfurt am Main kennengelernt hatte und Ähnliches auch in Hamburg aufziehen wollte. Die Idee ist super – und inzwischen preisgekrönt. 2020 wurde der Hamburger Tandemclub beim Werner Otto Preis der Alexander Otto Sportstiftung geehrt.
„Es ist ein vollkommen inklusiver Sport“, sagt Ina Seidel (64), „wo können denn Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam so aktiv sein?“ Die Frage ist berechtigt, die Antwort ist: Es werden mehr. Das Bewusstsein dafür ist gewachsen. Im Segelboot ist das inzwischen möglich, im Kanu oder Ruderboot, beim Rollstuhlbasketball. Aber die Tandemfahrer waren Pioniere. Als Zeitfahrdisziplin auf der Bahn ist es sogar Bestandteil der Paralympischen Spiele, während das Tandemfahren bei den Olympischen Spielen seinen Status schon 1972 verloren hat.
Manche Touren gehen über 120 Kilometer
Regelmäßig bricht die Weiße Speiche in den Sommermonaten zu Touren auf. Es sind Mittwochstouren über 40 bis 50 Kilometer, allgemeine Touren am Wochenende über eine ähnliche Distanz. Aber auch mal Fahrten bis zu 80 Kilometer oder sogar für die „Hardcore-Fraktion“ bis zu 120 Kilometer lang. „Wir suchen immer unterschiedliche Ziele aus“, erklärt Ulli Staniullo, der die allgemeinen Touren organisiert, „es ist schon wichtig, Abwechslung zu haben. Wir wollen doch immer Neues erleben.“
Außer am Mittwoch, wo es immer in Pinneberg beim Vereinshaus losgeht, ändert sich der Startort für die längeren Touren regelmäßig. Die Räder werden auf einem großen Anhänger dorthin gebracht und nach der Tour auch zurück in den Club. Deshalb werden Startpunkte ausgesucht, die mit Bus und Bahn erreichbar sind. Leider hat ein langjähriger Fahrer des Anhängerwagens seinen „Job“ aus gesundheitlichen Gründen aufgeben müssen. Die Weiße Speiche sucht also dringend Ersatz. „Es wäre wirklich super, wenn das jemand machen könnte“, sagt der Vorsitzende Bernd Wülfken.
Jeder ist willkommen, der den Sport mal ausprobieren möchte
Recht häufig sind Paare Mitglieder im Verein. Ein Sehbehinderter und ein normal Sehender. Das heißt aber nicht, dass sie immer gemeinsam fahren. Abwechslung ist Trumpf. „Miteinander reden ist wichtig und schön“, sagt Martina Krebs-Wülfken (69). Und wie ist das so, wenn man mit eingeschränkter Sicht hinten sitzt und sich hundertprozentig darauf verlassen muss, dass der Pilot vorne keinen Mist macht? „Ja wie?“, Martina Krebs-Wülfing antwortet mit einer Gegenfrage: „Ins Auto steigen Sie doch auch zu jedem ein und zeigen Vertrauen.“ Das Problem sei eher ein anderes. „Das Aufsteigen muss synchron laufen, sonst gibt es Chaos“, sagt Ina Seidel, „und wer Tandem fahren will, sollte ein sicherer Radfahrer sein.“
Sonst sei alles kein Problem. Jeder ist willkommen, der es einmal ausprobieren möchte. „Aber auch wir haben ein Nachwuchsproblem“, räumt Bernd Wülfken ein, „es ist wohl ein allgemeiner Trend, dass Menschen immer weniger gerne in Vereine gehen wollen und sich dort organisieren.“ Oder gar Verpflichtungen auf sich nehmen. Das aber sei im Club Weiße Speiche alles nicht so. Die Wenigsten machten alle Touren mit. „Jeder kann kommen, wann er Lust hat“, betont auch Ulli Staniullo.
Viele Ältere, die erblinden, trauen sich nicht
Durch den medizinischen Fortschritt ist auch die Anzahl der sehbehinderten und blinden Menschen in Deutschland zurückgegangen. „Und viele Ältere, die spät erblinden, trauen sich nicht“, sagt Bernd Wülfken. Sie müssen langsam lernen, mit ihrer neuen Lebenssituation klarzukommen. Der Tandemclub könnte dazu tatsächlich einen Beitrag leisten, man muss nur den Weg dahin finden.
Informationen zu Touren und Kontaktdaten gibt es unter www.tandemclub.de