Sie führen beim Verein Weiße Speiche Sehbehinderte während gemeinsamer Ausflüge auf zwei Rädern

Henstedt-Ulzburg. Mit 57 Jahren musste Ursel Mielmann ihren geliebten Beruf als Musikpädagogin aufgeben. An der Staatlichen Musikschule in Hamburg hatte sie Kinder unterrichtet, mit ihnen musiziert und mit ihnen auf der Bühne gestanden. Doch dann wollten die Augen nicht mehr. Retinopathia pigmentosa lautet die Diagnose – eine tückische Krankheit, die die Sehfähigkeit stetig einschränkt.

Fahrradfahren, ihre zweite große Leidenschaft, war nur noch möglich, wenn ihr Mann mit Ursel Mielmann unterwegs war. Doch auch damit war es vor fünf Jahren vorbei, der Ehemann starb. Aufgegeben hat die Hamburgerin dennoch nicht. Mit ihren 70 Jahren sitzt sie wieder auf einem Fahrrad und ist regelmäßig im Hamburger Umland unterwegs. Die Weiße Speiche hat es möglich gemacht.

Der Verein hat zwar schon viele Anhänger, es fehlen aber Mitglieder

So nennt sich ein Verein, dem Sehbehinderte, Blinde und Menschen mit gesunden Augen angehören. Sie sind auf Tandems unterwegs. Piloten heißen die Sehenden, die am Lenker sitzen und gemeinsam mit ihrem behinderten Partner in die Pedale treten. Die Spätsommertour dieses Jahres führte die Gruppe nach Henstedt-Ulzburg. In Pinneberg waren zwei Dutzend Tandems gestartet, durchs Grüne fuhren die Teams abseits von Auspuffgasen und Verkehrslärm gen Osten und legten nach einem Stopp an der Alsterquelle eine angemeldete Rast in der Feuerwache der Großgemeinde ein. Der Wehrführer stellte die Aufgaben seiner Mannschaft vor und sorgte für eine Stärkung der Radler, die aus allen Umlandkreisen und Hamburg stammen.

Die Weiße Speiche hat zwar inzwischen viele Anhänger, dennoch fehlen Mitglieder. „Wir brauchen Piloten“, sagt Matthias Pusch, der die Tour nach Henstedt-Ulzburg vorbereitet hat.

Gesucht werden Menschen, die Spaß an gemeinsamen Ausflügen haben. „Es ist eine so tolle Gemeinschaft“, sagt Ursel Mielmann, die gerade noch so gut sehen kann, dass sie allein in ihrem Haus zurecht kommt. „Kein Pilot macht aus Mitleid mit“, sagt sie und freut sich, dass es keine Berührungsängste zwischen den Radlern mit starken Seheinschränkungen und ihren Navigatoren gibt, die gut sehen können. Den Teilnehmern gehe es um die Gemeinschaft und die Bewegung an frischer Luft.

Ein Begleitfahrzeug mit Werkzeug und Ersatzfahrrädern ist immer dabei

Die Tour, die Ursel Mielmann mit ihrem Piloten Hartmut Bergmann zurücklegt, ist rund 70 Kilometer lang. Ein Begleitfahrzeug mit Werkzeug und Ersatzfahrrädern ist immer dabei. Eine andere Gruppe der Weißen Speiche fährt Mittwochstouren, die deutlich kürzer sind. Wer sportlich und gesundheitlich fit ist, geht auf die 100 Kilometer-Tour. Bis zu 150 Kilometer legen die Zweisitzer auf ihren Ausflügen Zurück. Diese Gruppe nimmt auch an den Cyclassics, dem jährlichen Radsportgroßereignis in Hamburg, teil.

100 Mitglieder gehören zur Weißen Speiche. Piloten müssen nicht Mitglied sein. Sie können sich engagieren, ohne sich an die Organisation zu binden. Im Winter fällt das Radfahren wegen der problematischen Witterung aus, dennoch verzichten die Vereinsmitglieder nicht auf Bewegung. Dann steht gemeinsames Wandern auf dem Programm.

Der pensionierte Polizeibeamte Matthias Pusch fährt als Pilot bereits seit Jahren bei der Weißen Speiche. „Die Menschen sind unternehmungslustig und dem Leben zugewandt“, sagt er über die sehbehinderten Copiloten. „Ich fühle mich beschenkt, wenn ich von einer Tour mit ihnen zurückkehre.“ Pusch ist besonders beeindruckt, dass sich die Menschen auf dem Rücksitz des Tandems trotz ihrer Behinderung nicht hängen lassen – so wie Ursel Mielmann, die nicht nur kräftig in die Pedalen tritt, sondern auch sonst noch optimistisch nach vorn blickt und über das Radfahren hinaus aktiv ist.

Die Seniorin sieht nur wenig, hat im vergangenen Jahr eine Krebserkrankung überwunden und radelt begeistert mit. Außerdem geht sie regelmäßig zu ihrem Spanischkursus. Dann hat sie stets ihre große Lupe dabei, so kann sie dem Unterricht gut folgen. „Ich versuche ein aktives Leben zu führen“, sagt die 70-Jährige.

Wer sich für die Weiße Speiche interessiert, sollte sich bei Gregor Schreithauer unter Telefon 040/5706093 oder bei Ulli Staniullo, Telefon 040/8316401 melden. Weitere Informationen im Internet: www.tandemclub.de.