Wedel. Zhuravlevs haben alles verloren, als Mariupol zerstört wurde. Sie haben zwar ihr Leben, doch Nachrichten bringen sie immer noch um.
Sie wissen es nur zu gut, haben es am eigenen Leib erfahren: Seit zwei Jahren tobt mitten in Europa wieder ein Krieg, nachdem Russland am 24. Februar 2022 seinen Nachbarn, die Ukraine, überfallen hat. Zu Beginn war vor allem die Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer im Osten des Landes unter erbarmungslosem Beschuss durch die russische Armee. Von dort gelang den ukrainischen Familien Zhuravlev und Sapon die Flucht nach Wedel.
Die verzweifelte Zivilbevölkerung hatte kein Wasser, kein Essen, keinen Strom – und kaum noch Hoffnung. Wenige Wochen nach dem Beginn der Kämpfe trafen die beiden ukrainischen Familien ihren Entschluss und entkamen der Kriegshölle Mariupol – mit viel Glück – lebend. Die Stadt war von den Russen eingekesselt worden.
Ukraine-Krieg: Nach Flucht aus Mariupol – wie gelingt der Neustart in Wedel?
Am 20. März 2022 erreichten die Geflüchteten ihr Fluchtziel – die Notunterkunft in Wedel. Später zogen sie um in zwei Wohnungen in der Rolandstadt. Wie geht es Mikhail (63) und Ehefrau Irina (55), Tochter Alina (35), ihrem Bruder Vasyl (26), der damals in Thailand gelebt hatte, und ihren Kindern Mark (8) und Kirill (10) sowie ihrem Ehemann Jewgeni (44) heute?
„Uns geht es ziemlich gut und wir haben uns an die deutsche Mentalität und die Regeln gewöhnt. Es ist unser zweites Zuhause geworden“, sagt Alina Sapon. Noch immer sei die gesamte Familie allen Deutschen sehr dankbar dafür, dass sie die Ukrainer hier so zu unterstützen. „Danke für die Hilfe, die Freundlichkeit und die Unterstützung“, führt sie aus. Die Deutschen würden ihnen in „schwierigen Zeiten des Lebens“ helfen.
„Die täglichen Nachrichten bringen uns sozusagen langsam um“
Doch natürlich könnten sämtliche Familienmitglieder nicht komplett entspannt das neue Leben genießen. „Wegen der schrecklichen Situation in unserem Heimatland. Die täglichen Nachrichten bringen uns sozusagen langsam um. Also das ganze Chaos, die Angst, der starke Schmerz und die vielen Toten“, sagt sie.
Es sei einfach verdammt schwer, ein neues Leben ganz von Anfang an zu starten. Sapon: „Vor allem, wenn man ein wirklich schönes Leben hatte und du dann aus deiner Heimatstadt ungerechtfertigt und in so einer bösartigen Weise vertrieben wirst, wie es die russischen Terroristen getan haben“.
Angegriffene Psyche, aber „wir versuchen einfach, stark zu sein und weiterzuleben“
Auf psychisch-moralischer Ebene sei durch die schrecklichen Geschehnisse vieles zerstört worden, aber „wir versuchen einfach, stark zu sein und weiterzuleben.“ Sie und ihr Mann sehen ihre Zukunft in Deutschland, auch die Kinder sollen hier aufwachsen.
Eine Rückkehr, selbst in ferner Zukunft, hält sie für ausgeschlossen. „Aktuell haben wir ohnehin keine Möglichkeit, unser Mariupol zu besuchen, weil es nicht mehr ukrainisches Staatsgebiet ist“, sagt Zhuravlev. Sie persönlich glaubt auch nicht daran, dass die dem Erdboden gleichgemachte Stadt jemals wieder unter ukrainischer Flagge aufblühen wird.
Hafenstadt Mariupol ist nur noch von Russland aus zu erreichen
Die Hafenstadt, die nur noch über russisches Staatsgebiet zu erreichen ist, ist seit Mai 2022 in russischer Hand – die komplette Region Donezk und weitere Gebiete im Osten und Süden der Ukraine ebenfalls. „Ich möchte gar nicht mehr zurück, weil es in uns allen riesigen emotionalen Stress auslösen würde. Es sind einfach so viele negative Eindrücke mit der Zeit verbunden, als wir wirklich nah dran waren, unser Leben zu verlieren“.
Doch der Blick soll lieber in die Zukunft gehen. „Ich mag meinen Job und die Kollegen hier. Und ich mag es auch, eine echte Unterstützung für Kinder zu sein, die unter diesem schrecklichen Krieg leiden“, erklärt die zweifache Mutter, die gern Sport treibt und Yoga-Kurse besucht. Sorgen bereitet den Sapons momentan die Wohnungssuche, da ihr Mietvertrag im Mai ausläuft. „Ich weiß, dass es schwierig wird, aber ich hoffe, dass wir bald eine neue Wohnung finden“, hofft sie.
Familienmitglieder absolvieren Sprachkurse – Wohnung gesucht
Auch ihr Mann Jewgeni kommt Stück für Stück in Wedel voran: Er hat das A2-Sprachzertifikat bestanden und unterstützt die Familie mit einem Mini-Job. Vater Mikhail hat ebenfalls im Dezember dieses Sprachzertifikat erhalten. „Nun fange ich an, mit 300 Unterrichtsstunden das Zertifikat B1 zu erreichen“, sagt er. Zusätzlich belegt er Kurse in Geschichte und Politik. Die deutschen Sprachzertifikate enden aufsteigend bei C2 – der Sprachschatz soll dann fast dem eines Muttersprachlers entsprechen.
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Alinas Bruder Vasyl arbeitet nicht mehr in der IT-Branche, er ist nun im Online-Vertrieb einer Wedeler Motorenöl-Firma tätig. „Es geht bei uns alles seinen Gang. Für uns ist es eine sehr wichtige Sache, dass wir uns auf Deutsch verständigen können“, erklärt Alina Zhuravlev. Sie schauen auch Filme in deutscher Sprache, hören Radio, lesen Bücher und lernen über ihr näheres Umfeld laufend dazu.
Die Großmutter erkrankte nach der Flucht an Krebs
Mutter Irina lernt die Sprache aktuell im Internet, da sie ihre Mutter Galina pflegt, die nach der Ankunft in Deutschland – möglicherweise ausgelöst durch die schlimmen Kriegserlebnisse – an Krebs erkrankte.
Alinas Söhne besuchen mittlerweile die zweite und vierte Klasse der Grundschule Moorweg und würden sich „Stück für Stück integrieren. Sie haben schon Freunde gefunden, mit denen sie spielen und auch abseits des Unterrichts die Sprache üben“, freut die Wedelerin sich. Kirill und Mark seien zudem begeisterte Basketballer. Der Sport wird über Kooperation mit dem SC Rist Wedel auch in Schul-AGs angeboten.
Der Krieg in ihrer Heimat bleibt bei Alina Zhuravlev jedoch immer präsent. „Ich hätte es niemals für möglich gehalten, dass wir im 21. Jahrhundert mit einem Krieg konfrontiert werden. Ich wünsche mir, dass er so schnell wie möglich aufhört“, sagt sie. Und sie fügt hinzu: „Es zerbricht mir jedes Mal mein Herz, wenn ich an diese beängstigende Zeit denken muss, als wir uns vor der russischen Invasion gerettet haben.“