Wedel. Andrea Koehn beendet das Kapitel Stadtbücherei. Zum Abschied verrät sie ihre besten Lese-Tipps und wie es für sie nun weitergeht.
Der Gesprächseinstieg ist gewagt, der Versuch eines Kompliments hätte auch schiefgehen können, gelingt aber gerade noch so. Also: Warum geht Andrea Koehn als Leiterin der Stadtbücherei Wedel denn eigentlich im Alter von Anfang 40 in den Ruhestand? „Vielen Dank. Das ist lieb. Tatsächlich habe ich das auch schon ein paar Mal von anderer Seite gehört“, sagt sie und lacht.
Das wahre Alter der Wedelerin ist 62. Dauerhaftes Lesen und eine strukturierte Arbeitsweise helfen anscheinend, den optischen Alterungsprozess aufzuhalten. Dabei hat sie sich recht wenig geschont und immer mit Leidenschaft die Weiterentwicklung der Bücherei vorangetrieben.
Nach mehr als 30 Jahren: Wedels Stadtbücherei-Chefin geht in den Ruhestand
„Seitdem ich 2006 die Leitung der Stadtbücherei übernommen hatte, wollte ich eigentlich immer ein Sabbatical nehmen und ein Jahr ganz in Ruhe Pause machen. Davon habe ich geträumt. Aber es hat sich wegen der Personalsituation leider nie wirklich ergeben“, sagt sie.
Also wurde stattdessen fleißig gearbeitet und die Berufsstunden auf ein Lebenszeitkonto gutgeschrieben, sodass die Wedelerin ihre Altersteilzeit schon am 5. Januar 2024 starten kann. Davor wird der aktuelle Jahresabschluss noch von ihr gewissenhaft erledigt. Dazu sei stets bis Ende Januar eines Jahres Zeit. Und möglicherweise wird Andrea Koehn danach dann wirklich davon etwas mehr haben.
Diese Bücher würde sie mit auf eine einsame Insel nehmen
Auch für das Lesen. Denn Koehn, die 1992 als Aushilfskraft in Wedels Stadtbibliothek angefangen hatte, sei nach eigenen Angaben in all den Jahren gar nicht dazu in gewünschtem Maß gekommen.
Wenn sie Bücher für den Aufenthalt auf einer einsamen Insel wählen müsste, wären es diese: „Julie Zeh - ‚Über Menschen‘, Yuval Noah Harari – ‚Eine kurze Geschichte der Zeit“, Rolf Dobelli – ‚Die Kunst des klaren Denkens‘ und auch ‚Die Kunst des klugen Handelns‘. Dazu kämen ‚Deutschland 2050: Wie der Klimawandel unser Leben verändern wird‘ von Nick Römer und Toralf Staudt. Und dann noch Michaela Wiebusch - ‚Mosaik meines Lebens.‘“ Generell empfiehlt sie alle Bücher der Autorin Zeh. Zum Abschalten lese Koen auch gern Wladimir Kaminer.
Studium aus der DDR wurde zunächst nicht anerkannt
Wie der gebürtige Russe stammt Koehn aus dem Osten, wenn auch nicht ganz so weit aus dem Osten wie Kaminer. 1986 beendete die gebürtige Schwerinerin in Leipzig ihr Studium als Bibliothekarin. Für einen Leitungsposten war ihr der Eintritt in die SED freundlich, aber bestimmend nahegelegt worden.
„Aber das wollte ich nicht“, so Koehn. 1989 floh sie noch vor dem Fall der Mauer aus der DDR über Ungarn und landete zunächst in Mannheim und später in Bayern. Beruflich war Koehn zu jener Zeit im ihr fachfremden Orthopädie-Bereich tätig.
1992 begann sie dann nach dem Umzug in den Norden in der Stadtbücherei Wedel einen Job als Assistentin, nachdem sie eine Zeitungsannonce gelesen hatte. Es dauerte stolze zwei Jahre, bis ihr Studienabschluss von einer sächsischen Behörde übermittelt wurde und letztlich in Norddeutschland anerkannt wurde.
Der Weg, hochoffiziell in ihrem per Studium gelernten Job zu arbeiten, war endlich frei. „Von 1996 an konnte ich dann hier eine Stelle als Bibliothekarin antreten und zehn Jahre später habe ich die Leitung übernommen“, erzählt sie.
Open Library in Wedel bleibt ein unerfüllter Traum
Und seitdem haben Koehn und ihr aktuell elfköpfiges Team das klischee-behaftete durchaus verstaubte Image einer Stadtbücherei ziemlich auf den Kopf gestellt und die Wedeler Institution crossmedial enorm weiterentwickelt. Neben klassischen Print-Werken ist die Stadtbächerei schon lang auf digitaler Ebene angekommen. Es gebe laut Koehn circa 65.000 Medien, digitale Inhalte sind zusätzlich mit etwa 100.000 Titeln ausleihbar.
„Das Beste an meiner Arbeit war für mich die Gestaltungsfreiheit, natürlich in einem gewissen Rahmen“, meint die Wedelerin. Andernfalls hätte sie gern noch ihre eigene Vision von der Open Library verwirklicht. Also eine Bücherei, die auch ohne Personal, etwa abends oder an den Wochenenden besucht werden könne.
Stadtbücherei Wedel schon zum dritten Mal ausgezeichnet
Doch auch ohne diesen Schritt hat sich in all den Jahren vieles getan: Bereits zum dritten Mal ist die Stadtbücherei Wedel für jeweils drei Jahre als zukunftsweisende Einrichtung mit hoher Aufenthaltsqualität von der Büchereizentrale Schleswig-Holstein ausgezeichnet worden.
Sie trägt das Gütesiegel „Qualifizierte Bibliothek“. In der Beurteilung war insbesondere die starke Vernetzung der Bücherei innerhalb Wedels und die gute Einbindung in lokale Kultur- und Bildungsstrukturen hervorgehoben worden. Im Jahr 2017 gehörte die Stadtbücherei Wedel zu den ersten Institutionen im Land, die vom Büchereiverein nach 45 Kriterien bewertet und für gut befunden wurde. Nach der ersten Rezertifizierung in 2021 konnten, gelang diese nun ein weiteres Mal.
Jeder darf die Stadtbücherei Wedel besuchen – auch ohne Mitgliedsausweis
Jeder kann die Angebote vor Ort nutzen, auch ohne kostenpflichtigen Ausweis, der zum Beispiel für das Leihen der Medien nötig ist. Auch die Möglichkeit, Medien digital auszuleihen („Onleihe“), gibt es. „Wir haben auch beispielsweise die Zusammenarbeit mit den Schulen intensiviert und waren in einigen Bereichen in der Anfangszeit weiter als andere Einrichtungen im Land. Da haben wir schon Pionierarbeit geleistet“, meint Koehn. Die Bücherei am Rosengarten sei gewissermaßen auch ein beliebter Treffpunkt in Wedel.
Es gebe viele Angebote, zum Beispiel in der Leseförderung von Kindern oder den „Dialog in Deutsch“, bei der Muttersprachler ehrenamtlich Bürgern mit Migrationshintergrund in kleiner Runde etwas Furcht vor der herausfordernden deutschen Sprache nehmen möchten.
Harry-Potter-Bücher sehr beliebt – wie auch die Stadtbücherei seit der Corona-Pandemie
Dazu Tablet- oder Schach-Kurse, Vorlesestunden für Kinder, Bastel-Aktionen, Ferienleseclubs, Vorträge, Lesungen und vieles mehr, was weit über das Wälzen von Büchern hinausgeht. Es gibt sogar einen im Internet aufgegriffenen Trend „Booktok. Dies ist ein Lesekreis in der Jugendecke, in der über Lieblingsbücher gesprochen wird, um die junge TikTok-Generation vom Smartphone auch in Richtung Buch zu lotsen.
Gerade in der akuten Zeit der Corona-Pandemie ab 2020 sei das weitläufige Areal Stadtbücherei von einigen Wedelern wieder entdeckt worden, da Distanz und Lesen außerhalb der eigenen vier Wände gut zu kombinieren gewesen seien. „Wir haben bisher in diesem Jahr gut 5600 aktive Nutzer, die genaue Zahl ermittele ich am Jahresende noch einmal. Bis Ende September gab es insgesamt knapp 90.000 Besucher in der Bibliothek“, sagt Koehn stolz. Die 100.000er-Marke dürfte noch locker fallen.
- Stadtbücherei Wedel: Viele Angebote gibt es auch ohne Ausweis
- Wedel: Warum die Nazis große Angst vor Pünktchen und Anton hatten
- Wedel: Verbittert und enttäuscht: Klimaschutzfond löst sich auf
Haben sich in den über 30 Jahren besonders nachgefragte Buchtitel in ihr Gedächtnis gebrannt? „Die Harry-Potter-Titel haben die Kinder sehr viel ausgeliehen. Die Reihe hat ja ganze Generationen wieder zum Lesen gebracht“, so Koehn. Ansonsten sei dies schwierig zu beantworten, da keine Hit-Listen geführt wurden.
Auch fremdsprachige Bücher können bestellt werden
Generell werde ein Buch im eigenen Bestand im Bedarfsfall einfach erhöht, damit es mehr Ausleihmöglichkeiten gebe. In Wedel funktionierten beispielsweise Romane, Thriller, Krimis, auch jene, die in Norddeutschland spielten, oder die Titel der Spiegel-Bestsellerliste gut. Durch steigende Papierpreise habe sich ohnehin der Wunsch nach einem geliehenen statt gekauften Buch erhöht. Sogar fremdsprachige Bücher können über die Stadtbücherei Wedel bestellt werden.
Andrea Koehn möchte sich nun zeitnah das Buch „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“ von Yuval Noah Harari vornehmen. Wenn sie denn dafür auch wirklich Zeit findet. Denn viele andere Pläne gibt es auch: „Ich wandere gern und möchte die Natur genießen. Und ich möchte eigentlich den Segelschein noch machen. Außerdem interessiere ich mich für die Antike und will mich in Italien oder Griechenland umschauen. Und ich wollte noch Kiswahili lernen.“
Ehepaar Koehn besucht regelmäßig Tansania, um die Menschen zu unterstützen
Letzteres ist eine Sprache, die im afrikanischen Land Tansania gesprochen wird. Dort ist sie regelmäßig mit ihrem Mann Michael, der sich jahrelang unter anderem im Klimaschutz-Fonds Wedel engagiert hat, zu Besuch, um die Familien vor Ort zu unterstützen. „Nächstes Jahr wollen wir mal drei Monate am Stück dort bleiben. Und mein Sohn ist nach Südafrika ausgewandert“, so die Ruheständlerin in spe.
Mittelfristig solle dann sogar der Lebensmittelpunkt auf den afrikanischen Kontinent verlagert werden. Erst einmal will das Ehepaar aber noch in Wedel bleiben. Bei der Fülle dieser Projekte klingt es doch sehr danach, dass Andrea Koehn rastlos sei. Aber wahrscheinlich laufe wegen des beruflichen Hintergrundes alles bestens strukturiert ab.
Stadtbücherei Wedel: Leiterin möchte Yoga machen – und vieles mehr
Wieder muss sie lachen. „Ich würde sagen, dass ich meine Zeit gern effektiv nutze. Aber ich freue mich natürlich auch auf die Ruhe.“ Über Yoga wolle sie endlich einmal zur Ruhe kommen. All die Jahre seien schließlich so schnell verflogen. Da habe es einfach viel zu wenig Gelegenheit zur Reflexion gegeben.
Stattdessen ging es immer nur vorwärts, im Sinne der zeitgemäßen Weitentwicklung der Stadtbücherei Wedel. Eine neue Leitung steht bereits fest. Ab März 2024 übernimmt die Elmshornerin Ilka Hachenberg, die ebenfalls ein Bibliothekarinnen-Studium absolviert hatte und in Wedel bereits im Zuge eines Praktikums tätig war.