Kreis Pinneberg. 60 Männer und Frauen im Kreis Pinneberg frönen einer uralten Leidenschaft mit intelligenten Tieren, die nach exaktem Plan fliegen.
Sieben Jahre alt ist der Knabe, als er das erste Mal eine Taube in der Hand hält. „Sie war so hübsch, die Federn am Kropf schillerten blau und grün. Das Tier pulsierte zwischen meinen Fingern wie der Trafo meiner kleinen Eisenbahn. Die Taube war so lebendig, so warm“, erinnert sich Gerhard Winkler aus Uetersen, den später Freunde nur noch „Charly“ nannten dank seiner Flankenläufe, die Charly Dörfel beim großen HSV berühmt machten.
Ein Dreivierteljahrhundert ist dieser entscheidende Moment seines Lebens her und noch immer strahlen die Augen vor Glück. Kurz nach dem wunderbaren Augenblick bekommt er vom Onkel aus Husum sein erstes Tauben-Pärchen geschenkt. Seitdem lässt ihn die Leidenschaft, Tauben zu züchten und sie Hunderte von Kilometern auf Reisen zu schicken, nicht mehr los.
Brieftaubensport und -zucht boomen in den 1980ern und 90ern
In den 1980er- und 90er-Jahren boomen Brieftaubensport und -zucht in Deutschland. Allein im Kreis Pinneberg gibt es etwa 600 Frauen und Männer, die dem Hobby frönen. Heute sind davon noch etwa zehn Prozent aktiv, von denen etwa die Hälfte zur Reisevereinigung Südholstein zählt, die von Winklers Sohn Olaf aus Moorrege geführt wird.
Also müssen frische Kräfte her, die weitere neugierige Mitstreiter anziehen. Ömer Palabiyikcza (58) ist einer, auf denen die erfahrenen Oldies des Brieftaubensports setzen. Durch einen Zufall wird Heinz Hasenkampf (89) auf ihn aufmerksam. Der Dachdeckermeister aus Heist hat in Holm zu tun und erblickt über sich das liebgewonnene Bild kreisender Tauben.
Wie der alte Brieftaubenzüchter den Nachwuchs anwirbt
„Wo kommen die her?“ Der alte Handwerksmeister macht sich auf die Suche und trifft den Sohn einer türkischen Gastarbeiterfamilie, der gebannt die Vögel über seinem Grundstück beobachtete. „Ich dachte, was will der von mir?“ erinnert sich Palabiyikcza. Die Kluft ist schnell überbrückt. Das ungleiche Paar funkt innerhalb von wenigen Minuten auf einer Wellenlänge.
Auch Ömer Palabiyikcza hat viel zu erzählen. Er wird im europäischen Teil der Türkei geboren. Seine Eltern leben als Gastarbeiter in Deutschland, während der Junge bei seinem Onkel aufwächst. Mit 13 darf er nach Deutschland ziehen. Er besucht die Theodor-Storm-Schule in Wedel und macht eine Lehre als Werkzeugmaschinenmechaniker. Heute leitet er in eine Abteilung in einem Chemieunternehmen in Hamburg.
Ömer Palabiyikcza hat als Kind Tauben geliebt
Die Beziehung zu den Vögeln ist älter: Als kleiner Junge darf sich Ömer auf dem Bauernhof in seiner Heimat um Tauben kümmern. „Diese Beziehung zu Tieren habe ich später immer vermisst. Aber in den Wohnungen in Wedel war zu wenig Platz“, erzählt der 58-Jährige. Als er 2009 endlich mit der Großfamilie ein Haus in Holm kaufen und renovieren kann, ist für ihn klar: Jetzt schaffe ich mir wieder Tauben an.
Gesagt, getan, der Schuppen wird so ausgebaut, dass dort Vögel untergebracht werden können. Kunstflugtauben ziehen ein. Und Ömer Palabiyikcza findet seine Ruhe, wenn er die tollen Flieger nach der anstrengenden Arbeit am Himmel beobachten kann. Bis, ja bis eines Tages der Habicht den Bestand erheblich dezimiert.
Reisetauben sind kräftiger und schneller als Kunstflugtauben
Kurze Zeit danach schenkt ihm eine Kollegin zwei Brief- beziehungsweise Reisetauben. „Die sind kräftiger und schneller“, erzählt Palabiyikcza. Von der Stunde an schickt er immer seine Reisetauben vorweg. „Wenn sich ihnen kein Greifvogel nähert, dürfen die kleinen Kunstflieger folgen.“ Bis, ja bis Brieftaubenzüchter Hasenkampf auftaucht.
„Dein Stall muss luftiger sein. Wir führen Dich gern in unseren Verein ein. Wir helfen Dir alle“, sagt der erfahrene Züchter. Freund „Ömer“ lässt sich schnell überzeugen. „Ich bin aufgenommen worden wie in einer Familie“, berichtet der Holmer. Gern lauscht er den Geschichten der erfahrenen Züchter.
Tatkräftige Unterstützung beim Neubau des Taubenschlags
„Ich weiß, dass ich noch viel lernen muss“, sagt Palabiyikcza. Ehrgeizig, wie er ist, saugt er alles auf. Und beim Neubau seines Schlags im Winter 2021 packt das Team des Dachdeckermeisters aus Heist selbstverständlich kräftig mit an. Klar, dass der neue Schlag jetzt den Namen seiner Gründerväter trägt: „Heinz & Ömer“.
Das „Jungmitglied“ im Verein ist stolz, dabei sein zu dürfen, und auf die Erfahrungen derjenigen aufzubauen, die zu den besten Züchtern Deutschlands gehören: Heinz Bindacz zum Beispiel. Seine Pokal- und Urkundensammlung reicht in der zünftig eingerichteten großen Gartenlaube bis unter die Decke.
Früher gab es noch Brieftauben-Schläge im Dachböden großer Häuser
Bindacz ist 1935 in Schlesien geboren. „Damals hatte fast jeder Haustiere“, erzählt der 88-Jährige. Großvater und Vater halten es zwar eher mit Kanarienvögeln, aber Sohn Heinz faszinieren die Brieftauben. Seinen ersten Schlag pflegte er noch auf dem Dachboden eines Mehrfamilienhauses in der alten Heimat.
„Früher war das auch in anderen Städten so gang und gäbe“, sagt Bindacz. Doch als er seine komplette Gruppe nach einem unerwarteten Schneefall verliert, schließt er vorerst seinen Verschlag. 1958 siedelt der Schlesier nach Hamburg um. Dann stehen Familie und Kinder ganz obenan. Anfang der 1970er-Jahre startet Bindacz den zweiten Einstieg in die Taubenzucht und baut direkt neben dem Eigenheim an der Grenze zwischen dem Kreis Pinneberg und Hamburg-Schnelsen ein großes Vogelhaus.
Die weibliche Taube fliegt schneller, wenn der Partner zu Hause wartet
Auf zwei Ebenen in Gruppen getrennt leben hier die Tiere. 150 sind es zurzeit. Auf Reisen gehen nur die jungen, kräftigen Damen. Heinz Bindacz hat sie alle selbst gezüchtet und trainiert. Und er hat gelernt: Wenn das Weibchen zu seinem Partner will, hat es beim Rückflug eine hohe Motivation.
Auf diese Weise und mit sorgfältiger Pflege und Hege hat sich Heinz Bindacz unter den Brieftaubenzüchtern in Deutschland einen hervorragenden Ruf erarbeitet. Seit Langem gehört er bundesweit zu den fünf Besten bei den Leistungen seiner Tiere.
Die ersten Tauben und sogar alte Verschläge werden gern verschenkt
Gern geben der heute 88-Jährige und seine erfahrenen Mitstreiter in der Reisevereinigung Südholstein ihre Erfahrungen an Jüngere weiter. „Wer einsteigen und sich nicht alles selbst kaufen will, den unterstützen wir, wo es geht“, erzählt „Charly“ Winkler.
Die ersten Tauben gibt es oft geschenkt. Da ältere Züchter aufgeben, ist oft sogar das Material für die Häuser und Volieren kostenlos. Doch am Ende muss jeder viel Zeit aufwenden.
Wenn der Mann zur Arbeit war, kümmerte sich die Ehefrau um die Tauben
Heinz Bindacz, der sich als Lkw-Fahrer seinen Lebensunterhalt verdiente, hatte das Glück, dass seine Frau komplett mitzog. Sie umsorgte die Tiere, wenn der Mann unterwegs war. „Das erleichtert natürlich die Aufgabe“, erzählt Bindacz. Und dann muss noch jemand gefunden werden, der die Ferienzeiten abdeckt.
Mehr aus der Region
- Robbe in Abflussrohr – was Pinnebergs Seehundjäger erlebt
- Fünf feierliche Säle im Kreis für Hochzeiten und Familienfeste
- Todkranker Vater bangt um seine Familie – und hat noch einen großen Wunsch
„Mitbringen sollte jeder Neuzüchter die Liebe zum Tier“, betont „Charly“ Winkler. Wer sich mit Tauben beschäftigt, wird erleben, wie intelligent die Tiere sind. „Das erkennt man schon daran, dass sich die Vögel total gut orientieren können.“
„Tauben haben ein fotografisches Gedächtnis“
Trainiert werden die Vögel, in dem sie von ihrer Voliere in immer größeren Kreisen fliegen. „Die Tauben haben ein fotografisches Gedächtnis“, sagt Winkler senior. Ihn fasziniert zudem, dass die Tiere wie die Menschen gern in Beziehungen leben. Und wehe, wenn ein fremder Vogel aus Versehen in die heimische Burg eindringt. Dann wird der ungebetene Gast mit Flügelschlag und Schnabelhacken aus der Wohnung gedrängt.
Dank der ausgezeichneten Zucht werden die Tiere zunehmend sportlicher. Waren früher Reisegeschwindigkeiten von 80 Kilometern pro Stunde Spitzenleistung, werden heute bis zu 130 Kilometer erreicht. Die ausgezeichnete körperliche Verfassung schafft aber auch begierige Feinde. „Charly“ Winkler erzählt: „Greifvögel bevorzugen die Brieftaube gegenüber den Wildtauben“ – und so wartet der Züchter manches Mal vergebens auf die Rückkehr seiner Sportler.
Wetten? Brieftaube galt als „Rennpferd des kleinen Mannes“
Die Leistungen der munteren Flieger verführten in der Hochzeit der Brieftaubenzucht auch zu Wetten. Deshalb gilt die Brieftaube auch als Rennpferd des kleinen Mannes.
Brieftauben kennt trotz sekundenschneller Mail-Technik noch heute fast jeder. Für eine kleine Gruppe Menschen sind sie nach wie vor Kult. Als Nachrichtenübermittler spielten sie in der Geschichte bereits seit der Antike vor fast 3000 Jahren eine große Rolle. Jetzt benötigt der Kult dringend Nachwuchs. Dafür geben „Charly“ Winkler, Telefon 0170/328 11 04, und Heinz Bindacz sehr gern Starthilfe.