Kreis Pinneberg. „Dramatische Lage“ durch den stetig steigenden Eigenanteil: So viele Frauen und Männer in den Heimen des Kreises sind in Not.
Stellen Sie sich vor: Sie haben 40 Jahre oder mehr gearbeitet. Zu Hause können Sie nicht mehr allein leben. Sie benötigen professionelle Hilfe und ziehen ins Seniorenheim um. Plötzlich müssen Sie für ein Zimmer und im besten Fall ein kleines Appartement mehr als 2000 Euro aufbringen - jeden Monat. Tendenz steigend.
Gut 3700 Frauen und Männer leben im Kreis Pinneberg in den vollstationären Einrichtungen. Etwa jeder Vierte davon muss den Eigenanteil, der zurzeit zwischen 2300 und 3000 Euro liegt, über Leistungen aus der Sozialhilfe aufbringen. Zwischen 750.000 Euro und einer Million liegen die Beiträge, die monatlich aus der Kasse des Kreises Pinneberg dafür fließen, aber komplett von Land und Bund ersetzt werden.
Altenheime im Kreis Pinneberg: Bewohner müssen Sozialhilfe beantragen
„Die Lage ist dramatisch.“ So kommentiert Ute Algier, langjährige Vorsitzende und jetzt Ehrenvorsitzende der Landesarbeitsgemeinschaft Heimmitwirkung, die gestiegenen Kosten für die Heimbewohner. Wenn der Eigenanteil weiter so steige, könne sich kaum noch jemand einen Heimplatz von der eigenen Rente leisten.
Die Leitungen der Alten- und Pflegeheime nennen folgende Ursachen für den massiven Anstieg des Bewohneranteils: Seit vorigem September gilt Tarifpflicht in den Einrichtungen. Dadurch sind die Personalkosten deutlich gestiegen, einige Heimleitungen beziffern das Plus auf gut 20 Prozent. Weitere Preistreiber seien die Energiekosten und die Inflation, die den Einkauf von Pflegematerialien und Lebensmitteln verteure.
Teure Heimplätze: Immer mehr Sozialhilfe-Empfänger
Diese Gründe für die Verteuerung bestätigt auch Franziska Brzezicha vom Landesverband der Arbeiterwohlfahrt. Die AWO führt drei große Einrichtungen im Kreis Pinneberg, und zwar in Tornesch, Elmshorn und Wedel. In allen drei Häusern wächst die Zahl der Menschen, die Sozialhilfe empfangen.
Innerhalb von vier Jahren stieg der Eigenanteil beispielsweise im Servicehaus in Tornesch von 2053 auf 2803 Euro. Das schaffen mehr als vier von zehn Bewohnern nicht aus eigener Kraft. In Elmshorn wird mit der Sozialhilfe mehr als jeder zweite Platz mitfinanziert. Nur Wedel verbucht derzeit mit 30 Prozent einen sehr niedrigen Anteil, der aber in den Vorjahren ebenfalls bei fast 50 Prozent gelegen hatte.
In Pinneberg wird noch über neue Pflegesätze verhandelt
In der Seniorenresidenz Helene Donner in Pinneberg ist der Anteil derjenigen, die auf Sozialhilfe bei der Finanzierung des Eigenanteils angewiesen sind, gegenüber dem 1. Juli 2022 allerdings sogar gesunken. Vor einem Jahr war noch knapp jeder Vierte der gut 100 Bewohner auf staatliche Unterstützung angewiesen. Heute ist es jeder Fünfte.
Der Eigenanteil liegt bei gut 2300 Euro für die Menschen mit Pflegegrad zwei bis fünf. Nur für die Senioren mit Pflegegrad eins werden gut 400 Euro mehr berechnet. Im Vergleich zum 1. Juli 2022 ist der Eigenanteil nur um etwa 30 Euro gestiegen. Aber dabei wird es nicht bleiben. Einrichtungsleiterin Maike Fobbe-Maeke sagt: „Wir sind derzeit in Pflegesatzverhandlungen und können die dann festzusetzenden Zahlen noch nicht nennen.“
Sozialamt prüft Vermögensverhältnisse auch der Kinder
Aber was passiert, wenn jemand den Eigenanteil nicht mehr aufbringen kann? Auf die Straße gesetzt wird niemand. Reicht die Rente dafür nicht, ist kein Vermögen vorhanden oder können Kinder die Lücke nicht schließen, springt das Sozialamt ein.
Bevor staatliche Hilfe fließt, prüft das Sozialamt, ob der Bewohner oder die Bewohnerin über Vermögen verfügt. Herangezogen werden sowohl das Einkommen und das Vermögen der pflegebedürftigen Person als auch das Einkommen des Ehegatten oder Lebenspartners. Die Vermögensfreigrenzen sind zum 1. Januar 2023 für Alleinstehende auf 10.000 Euro und für Eheleute auf 20.000 Euro angehoben worden.
Sozialhilfeträger kann verschenkte Immobilie zurückfordern
Das eigene Haus fällt solange nicht unter das Vermögen, wie der Ehepartner dort noch wohnt. Haben die Eltern ihr Haus an ihre Kinder verschenkt, kann der Sozialhilfeträger die Immobilie zurückfordern, wenn die Schenkung weniger als zehn Jahre zurückliegt. Kinder werden nur zur Zahlung des Eigenanteils verpflichtet, wenn ihr Einkommen mehr als 100.000 Euro beträgt.
Aufwendig ist der Prozess des Antrags, zumal die Heime in Vorleistung treten müssen. Das Verfahren ist immer gleich: Der Bewohner oder Angehörige beantragt Unterstützung bei der zuständigen Verwaltung. Die Genehmigung und die Auszahlung gehen direkt an den Antragsteller, der dann an die Einrichtung überweist.
Kreis Pinneberg: AWO fordert volle Übernahme der Pflegekosten
Alle AWO-Pflegeeinrichtungen berichten von einer Bearbeitungsdauer von 14 Tagen bis sechs Wochen bei den zuständigen Verwaltungen im Kreis Pinneberg. Aus Sicht der AWO eine vertretbare Dauer. Die Auszahlungen der Pflegekassen dauern dagegen laut Pressesprecherin Franziska Brzezicha deutlich länger, bis zu einem halben Jahr.
Die AWO fordert , die Pflegeversicherung völlig neu zu ordnen: „Volle Übernahme der Pflegekosten, denn Pflegebedürftigkeit darf kein Armutsrisiko sein. Einführung einer Bürger*innenversicherung, um die Gesundheitskosten auf allen Schultern zu verteilen. Spekulationen mit Pflegeeinrichtungen verhindern: Daseinsvorsorge darf kein Investitionsobjekt sein.“
Sozialverband unterstützt gerechte Entlohnung der Pflegekräfte
Interessenverbände beobachten ebenfalls eine wachsende Verunsicherung aufgrund der steigenden Eigenanteile. Es stehe dabei außer Frage, dass der Sozialverband eine gerechte Entlohnung der Pflegekräfte für ihre aufopferungsvolle Arbeit unterstütze, sagt Matthias Grandke vom Sozialverband Deutschland (SoVD) in Norderstedt.
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„Wir sehen es jedoch nicht als gerechtfertigt an, dass die Kosten dafür zu großen Teilen von den Pflegebedürftigen selbst getragen werden sollen. Der teilweise extrem gestiegene Eigenanteil treibt nicht wenige von ihnen in die Armut, während die Politik sich aus der Verantwortung stiehlt“, kritisiert Grandke.
Sozialberaterin Dörthe Köhne-Seiffert vom Sozialverband Kreis Pinneberg, der etwa 15.000 Mitglieder vertritt, sagt: „Es gibt viele Anfragen wegen der höheren Eigenanteile. Und die Seniorenheimbewohner kommen immer früher in Not, um Anträge stellen zu müssen.“
Kreis Pinneberg zahlt bis zu einer Million Euro Hilfe pro Monat
Während im benachbarten Kreis Segeberg deutlich mehr Heimbewohner und -bewohnerinnen als vor einem Jahr auf Finanzhilfe des Sozialamts angewiesen sind, kann das die Pressesprecherin des Kreises Pinneberg, Irmi Weber, nicht bestätigen. Eine Betrachtung der Juli-Zahlen der vergangenen fünf Jahre ergibt, dass die Zahl der Leistungsberechtigten zwischen 850 und 900 schwankt.
Diese Schwankung sei nicht linear, „also nicht im Sinne einer Steigerung oder Senkung zu interpretieren.“ Die Ausgaben schwanken entsprechend zwischen 756.070,01 bis 1.029.374,71 Euro in den jeweiligen Julimonaten, ebenfalls nicht linear. Irmi Weber: „Die Schwankungen sind sicherlich auch mit den verschiedenen Gesetzesänderungen der letzten Jahre in Beziehung zu setzen, die die Höhe der zu zahlenden Eigenanteile immer wieder verändert haben. Hierdurch sind wechselnd mehr Menschen leistungsberechtigt geworden und dann auch wieder weniger.“
Sozialhilfe: Heimbewohner im Kreis Pinneberg – Hoffnung auf Entlastung
Solche Gesetzesänderungen könnten auch künftig wieder zu Entlastungen führen. Zum 1. Januar 2024 werden die sogenannten Entlastungszuschläge erhöht. Der Eigenanteil für die reine Pflege soll so im ersten Jahr im Heim um 15 statt wie bisher nur fünf Prozent verringert werden, im zweiten Jahr um 30 statt 25 Prozent, im dritten um 50 statt 45 Prozent, ab dem vierten Jahr um 75 statt 70 Prozent.
Einige Sozialpolitikerinnen befürchten, dass die Entlastung dadurch nicht spürbar sinken werde. Ute Algier von der Landesarbeitsgemeinschaft Heimmitwirkung fordert deshalb, den Eigenanteil zu deckeln. „Außerdem muss das Land die Investitionskosten in den Heimen übernehmen, die bisher von den Bewohnern zu zahlen sind und den Eigenanteil nach oben treiben.“ Das würde, so der Ersatzkassenverband, jeden Bewohner aktuell im Schnitt um 477 Euro pro Monat entlasten.