Kreis Pinneberg. Ist es die Netflixserie Damengambit oder die Pandemiezeit? Weder noch. Im Kreis Pinneberg hat der Aufschwung vor allem zwei Gesichter.
Schach sei geistiges Catch-as-catch-can, sagte der schillernde Ex-Weltmeister Bobby Fischer einst über das Spiel, das er selbst so virtuos beherrschte. Und der russische Komponist Dmitri Schostakowitsch ergänzte: „Im Schachspiel vereinen sich Kunst und Wissenschaft.“
Beides mag zutreffen, gilt aber gewiss noch nicht für Zwei- bis Dreijährige. Ja, es ist generell schwer vorstellbar, dass Kleinkinder sich sinnvoll mit diesem höchst komplexen und mental anstrengenden Brettspiel beschäftigen, statt in der Sandkiste mit Backförmchen zu spielen.
Im Kreis Pinneberg macht Natasa Strizek beim Elmshorner Schachclub ESC trotzdem vor, wie es geht: „Natürlich spielen meine Schützlinge noch keine Partien gegeneinander. Ich bringe ihnen erst einmal bei, welche unterschiedlichen Fähigkeiten Figuren wie Bauer, Springer oder Dame haben“, sagt sie.
Kreis Pinneberg: Extremer Schachboom in Elmshorn – woher kommt der Hype
Die ehemalige U18-Jugend-Weltmeisterin geht in der Arbeit mit den Jüngsten förmlich auf: „Wenn ich mit den Kindern trainiere, fühle ich mich, als hätte ich Flügel“, schwärmt die gebürtige Serbin. „Das ist einfach eine unglaubliche Freude.“
Längst hat ihr Engagement Früchte getragen. Nahezu die Hälfte aller Kinder bis zum neunten Lebensjahr, die in Schleswig-Holstein organisiert Schach spielen, tun dies im ESC. 108 sind es laut der jüngsten Statistik. Beim zweitplatzierten Lübecker SV kommen sie auf gerade mal 18.
Elmshorner Schachclub: Mitgliederzahlen sind förmlich explodiert
Überhaupt sind dank des Einsatzes von Natasa Strizek und ihres Lebensgefährten Heiko Spaan die Mitgliederzahlen des Elmshorner SC buchstäblich explodiert. Waren es im Jahr 2015, als die beiden mit ihrer Entwicklungsarbeit begannen, noch 61 „Klötzchenschieber“, wie Franz Beckenbauer Schachspieler einmal herablassend nannte, hat sich die Zahl bis heute verfünffacht.
Das bleibt nicht ohne Folgen: Wenn am Sonnabend das 19. Schul-Schach-Turnier im „Haus der Begegnung“ am Hainholzer Damm stattfindet, rechnet Spaan mit rund hundert Teilnehmern. Startberechtigt sind Elmshorner Grundschüler von der ersten Klasse an bis hin zum Abi-Jahrgang.
Turnier am Sonntag – offene Ausschreibung würde den Rahmen sprengen
Spaan: „Würden wir das Turnier offen ausschreiben, könnten wir den Andrang kaum bewältigen. Deshalb die Begrenzung auf Elmshorn.“ Für alle, die mitmachen, haben er und seine Gattin kleine Präsente eingepackt, die Bestplatzierten erhalten dazu handelsübliche Pokale.
Kennengelernt haben sich die beiden Schachnerds im Jahr 2010, als Spaan in seiner Eigenschaft als Leistungssportreferent eine schleswig-holsteinische Landestrainerin für weibliche Schachspieler suchte. Strizek bewarb sich um den Job, bekam ihn, „und dann hat’s geschnackelt“, wie Spaan es formuliert. Gut ein Jahr später schlossen die beiden den Bund der Ehe.
Das Schachpaar – vor der Ehe musste er erst den Vater der Braut besiegen
Um die Einwilligung des Brautvaters zu erhalten, musste der Aspirant allerdings eine Art Eignungsprüfung bestehen, musste gegen den Schwiegervater in spe eine Schachpartie gewinnen. Im zweiten Anlauf gelang der Coup, das Brautpaar erhielt den väterlichen Segen.
Der aufopfernde Einsatz für das „königliche Spiel“ ist zugleich handfeste Sozialarbeit. Denn Schach ist für die kindliche Erziehung zum strukturierten Denken überaus wertvoll. Es lehrt, sich in der Gruppe zu konzentrieren und zu disziplinieren. Ferner braucht es für das Spiel, wenn es denn als Wettkampf betrieben wird, eine stabile physische Konstitution.
Schach schult bei Kindern die Entscheidungskompetenz
Namentlich Kinder aus sozial schwächeren Familien lernen beim Schach, eigenverantwortlich Entscheidungen zu treffen, die nicht selten zu ungewohnten Erfolgserlebnissen führen. So kann das gemeinschaftliche Strategiespiel helfen, soziale Brücken zu überwinden.
Dabei muss stets das Gebot der Fairness und des Respekts vor dem Gegner mitvermittelt werden. Denn ob Schach tatsächlich so martialisch-kriegerisch ist, wie Kritiker meinen, mag dahingestellt bleiben, sicher jedoch ist es, so Spaan, „ein Kampf am Brett mit allen zulässigen Mitteln. Es bleibt dabei aber immer ein Spiel – und soll es auch bleiben.“
Schach für Frauen: Natasa Strizek verlieh Elmshorn neuen Schwung
Auch dem bis dato vernachlässigten Frauenschach haben sie dank der Arbeit von Natasa Strizek beim ESC ordentlich Wind unter die Flügel gefächert. Deutschlandweit liegt der Verein in der Mitgliederstatistik mittlerweile auf Platz vier. Das Frauenteam ist 2022 in die Bundesliga aufgestiegen. Zwei Akteurinnen ragen heraus: Ornella Falke und Susanna Margayan.
Beide holten in ihren Altersklassen bereits Landesmeistertitel und starteten bei nationalen Titelkämpfen. Ornella fuhr im vergangenen Jahr sogar zu den Weltmeisterschaften nach Rumänien. Dort hingen die Trauben aber zu hoch, so dass ihre beachtlichen, sportlichen Leistungen unter dem Radar öffentlicher Wahrnehmung blieben.
Heiko Spaan: „Je mehr Leute Schach spielen, desto besser wird das Niveau“
Doch das kann sich ändern. Spaan setzt auf die Wirkungskraft des Gesetzes der großen Zahl: „Je mehr Leute bei uns Schach spielen, desto besser wird das Niveau und die Wahrscheinlichkeit, dass sich auch mal ein Toptalent herausschält.“
Professionelles Leistungsschach allerdings liegt jenseits der Elmshorner Perspektiven. Bundesligaklubs, die zu Punktspielen eigens Großmeister einfliegen lassen, verpulvern vielfach Etats von 150.000 Euro oder mehr. Für den ESC mittelfristig realistisch sein könnte der Aufstieg in die Dritte Liga, schätzt Spaan.
Extremer Schachboom in Elmshorn: Die Breite soll gefördert werden
Also wird das Augenmerk der Elmshorner bis auf weiteres nicht der Spitze, sondern der Breite gelten, sowie darauf, Jugendliche für eine sinnstiftende Freizeitbeschäftigung zu gewinnen. Das gelingt immer besser und führte bereits zu ersten Engpässen. Es gab Freitagabende, an denen 180 Spieler gleichzeitig Bauern, Türme und Läufer zogen, während andere warten mussten, bis ein Brett frei wurde.
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Für die Expansion der Mitgliederzahlen dürfte die generell zunehmende Popularität des Schachs hilfreich gewesen sein. Die hohen Einschaltzahlen der Netflixserie „Das Damengambit“ spielten dabei ebenso eine Rolle wie die Corona-Pandemie, durch die viele zwangsweise ans Heim gefesselte Menschen auf Schachportale im Internet gerieten.
Heiko Spaan grübelt schon, wie er einem weiter wachsenden Ansturm gerecht werden könnte und ist – im Scherz, versteht sich – auf eine spektakuläre Idee gekommen: „In fünf oder sechs Jahren wird ja das Klinikum Elmshorn frei. Dort hätten wir genügend Platz, um Schach zu spielen.“