Helgoland. Der Ornithologe Elmar Ballstaedt erklärt, warum die flugunfähigen Küken den Sprung von den Klippen auf Helgoland wagen.
Seit März besiedeln die fünf Hochseevogelarten Trottellumme, Tordalk, Basstölpel, Eissturmvogel und Dreizehenmöwe wieder ihre Brutplätze im Naturschutzgebiet Lummenfelsen und den angrenzenden Klippen inklusive des Inselwahrzeichens „Lange Anna“. „Alle fünf Vogelarten brüten deutschlandweit nur auf Helgoland und sorgen im Sommerhalbjahr für ein einzigartiges Naturschauspiel“, sagt Elmar Ballstaedt.
Seit 2018 hat der Ornithologe sein Büro in der Hummerbude des Vereins Jordsand und betreut auf dem roten Felsen die ornithologischen Schutzgebiete. Die Stationsleitung teilt er sich mit seiner Frau Rebecca, die sich unter anderem für den Verein Jordsand um das Wohl der vielen Robben auf der Helgoländer Düne kümmert.
Mit drei Wochen springen Lummenküken von den Klippen
Das Brutgeschäft ist in nun in vollem Gange und die Alttiere sind damit beschäftigt, ihren Brutplatz zu besetzen, ihr Ei zu bebrüten und zu guter Letzt ihr Jungtier großzuziehen. Vom Klippenrandweg ist dieses Spektakel aus nächster Nähe zu beobachten. Der Lummenfelsen und seine Bewohner können einen stundenlang in ihren Bann ziehen.
Das außergewöhnlichste Schauspiel der Brutzeit findet aber im Juni statt. „Im Alter von ungefähr drei Wochen springen die jungen Trottellummen von den Klippen hinab, um im Anschluss auf dem Wasser von ihren Eltern weiter großgezogen zu werden“, sagt Elmar Ballstaedt. Die Jungtiere können in diesem Alter noch nicht fliegen, sondern versuchen so gut wie möglich, mit ihren Stummelflügeln hinabzugleiten. Der sogenannte Lummensprung lockt alljährlich viele Besucher nach Helgoland und ist ein faszinierendes, aber auch mit viel Geduld verbundenes Phänomen. Manchmal dauert es Stunden bis Tage, bis ein Jungtier springt.
„Der Sprung ist eine Harakiri-Entscheidung“, sagt der Vogelexperte. Die Küken kämpfen mit sich, zögern manchmal drei oder vier Tage, ehe sie den Sprung von der Klippe wagen. Denn ein Zurück gibt es erstmal nicht. Auch die Wetterverhältnisse müssen stimmen. „Westwind könnte sie gegen den Felsen wehen.“
Und auch wenn der Wind günstig steht, heißt es alles oder nichts. Im Schutze der Dämmerung wagen sie zu springen. „Springt eine Lumme, stellt sich oft ein Dominoeffekt ein und zwei oder drei weitere folgen“, sagt er. Meist geschieht das zwischen 21 und 1 Uhr. In der Dunkelheit sind sie schwerer von Fressfeinden auszumachen. Denn besonders für die Silber- und Mantelmöwen sind die fetten, unbeholfenen Küken ein gefundenes Fressen. Trotz aller Dramatik – das Naturspektakel geht in weit mehr als 90 Prozent aller Fälle gut, schätzt Ballstaedt. Unten angekommen rufen die Jungen ihre Eltern, die auf dem Wasser auf sie warten, manchmal bis zu eine Woche lang. „Manchmal fällt eine Lumme in eine Felsspalte und kann sich nicht sofort befreien“, sagt Ballstaedt. Dann warten die Eltern ein paar Tage für den Fall, dass das Junge noch auftaucht. Die Bindung ist eng.
Wer den Lummensprung sehen möchte, hat ab 21 Uhr Gelegenheit dazu
Sobald der Lummennachwuchs seine Eltern erreicht, schwimmen die drollig wirkenden Vögel hinaus aufs offene Meer. Da sie sehr schlechte Flieger sind, verbringen sie die meiste Zeit schwimmend. Bis zu 100 Kilometer entfernen sich die Elterntiere mit ihrem Nachwuchs in den ersten sieben Tagen auf der Suche nach Fisch von Helgoland. Es ist also ein Glücksfall, wenn man vor der Insel noch eine Familie entdeckt. Erst nach zehn Wochen wird das Junge flügge.
Auch wer den Lummensprung sehen möchte, braucht Geduld und Glück. Tagesgäste werden ihn kaum sehen können, wenn sie um 16 Uhr mit der Fähre zurück aufs Festland fahren. Allerdings ist schon die Geräuschkulisse und Atmosphäre am Vogelfelsen einen Besuch wert. In der Dämmerung ertönt dann auch ein hoher zweisilbiger Ruf, mit dem die Lummenküken die Alttiere rufen. „Die speziellen Rufe der Jungen sind zur Monatswende zwischen Mai und Juni hörbar“, sagt der Vogelkundler. Die Seevögel hatten – wie alle Vögel – mit ihrer Brut etwas später als gewöhnlich begonnen, weil im April noch oft kalter Nordwind wehte.
Ende Mai und Anfang Juni 2021 fanden die jährlichen Zählungen der Brutvögel der Helgoländer Klippen durch die Vogelwarte Helgoland und den Verein Jordsand statt. Der Trend der vergangenen Jahre setzte sich dabei fort: Basstölpel, Trottellumme und Tordalk entwickeln sich positiv, Eissturmvogel und Dreizehenmöwe nehmen ab. Vor allem der Eissturmvogel bereitet den Ornithologen und Umweltschützern immer mehr Sorgen, da inzwischen nur noch 25 Paare auf Helgoland brüten. Dafür wurden 4700 Trottellummen-Brutpaare im vergangenen Jahr gezählt – ein neuer Rekord. Auch der Bestand der Basstölpel, die unmittelbar neben den Lummen brüten, ist auf fast 1500 angewachsen.
Vögel verenden in den Plastikschnüren, mit denen sie Nester bauen
Und das, obwohl vier bis sechs Prozent der Vögel in den Plastikschnüren, mit denen sie ihre Nester bauen, verenden. Bei den Trottellummen starben vor allem in der Fütterungszeit der Jungtiere viele Alttiere. Für die Jungtiere das Todesurteil, denn ein Elternteil allein schafft es nicht, sie zu versorgen. Generell sterben durch die Netze mehr Jung- als Alttiere. Die Seile wachsen teilweise ein. Stirbt ein Junges, werden die Eltern kein zweites Ei legen. Die Brutsaison ist damit verloren.
Bei den Basstölpeln starben im August und September vor allem Jungtiere. Einige junge Basstölpel, welche sehr nah am Zaun brüteten, konnten befreit werden. Dies ist kein einfaches Unterfangen. Der Felsen ist erosionsanfällig, wie zuletzt der größere Abbruch am 28. April zeigte. Selbst Profikletterer schätzen das Risiko als hoch ein.
Großteil des Plastik in Nestern stammt von Scheuerfäden der Fischerei
Ballstaedt hatte die Forschungsprojektstudie „Basstölpel und Meeresmüll“ 2019 gestartet. Sie sollte erstmals das Ausmaß der Plastikverschmutzung, die Auswirkung auf die Population und die Herkunft das Plastiks untersuchen. Dabei fördert ihn die Gemeinde Helgoland mit einem vierjährigen Stipendium. Auch die Universität Kiel, das Alfred-Wegener-Institut, die Vogelwarte Helgoland und der Verein Jordsand unterstützen das umfangreiche Projekt.
Eine erste Auswertung ergab, dass anfliegende Basstölpel deutlich mehr natürliches Nistmaterial eintrugen als Plastik oder eine Kombination aus Plastik und natürlichem Nistmaterial. Bei den Tieren, welche Plastik eintrugen, war jedoch deutlich zu erkennen, dass ein Großteil des künstlichen Nistmaterials synthetische Fasern aufweisen, die von Dolly Ropes stammen. Die Scheuerfäden werden von Fischern genutzt, um die Fischernetze bei der Berührung mit dem Meeresboden vor dem Durchscheuern zu schützen. Bündel aus Polyethylen-Strängen werden in das Netz eingeknotet oder mit Kabelbindern befestigt. Die Scheuerfäden verschleißen und werden in hoher Zahl ins Meer eingetragen. „Der Koalitionsvertrag der neuen Regierung sieht erstmals vor, die Dolly Ropes zu verbieten“, sagt Ballstaedt.
Das Plastik aus den Nestern zu entfernen, ist keine Alternative
Das Material, das die Vögel einbringen, ist vor allem orange und rot. „Vermutlich weil sie den im Wasser treibenden Grossalgen ähnlich sehen“, sagt Ballstaedt. Das Plastik aus den Nestern zu entfernen, ist keine Alternative. 2015 hatte der Verein Jordsand mit einem Geo- und Greenpeace-Team versuchsweise fünf Nester entfernt. „Die Vögel nehmen ihren Brutplatz danach wieder an, bringen aber neues Plastik ein, was für sie gefährlicher ist“, sagt der Ornithologe. Die Gefahr, sich in den losen, im Wind flatternden neuen Schnüren zu verheddern ist größer als in den alten, von Kot verklebten.
Neben den Trottellummen springen übrigens auch die jungen Tordalken, von denen es etwa 80 Brutpaare auf Helgoland gibt, vom Felsen. „Für die schlechten Flieger ist es jedes Mal ein extremer Kraftaufwand, den Felsen anzusteuern“, sagt Elmar Ballstaedt. Je mehr das Junge frisst, desto höher wird der Aufwand, den die Eltern betreiben müssen. Auch deshalb müssen sich die Küken schon drei Wochen nach dem Schlüpfen todesmutig von den Klippen stürzen.
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Lummentage auf Helgoland bei Führungen erleben
Der Verein Jordsand, der Helgoland Tourismus-Service und das Institut für Vogelforschung „Vogelwarte Helgoland“ bieten vom 10. bis 25. Juni ein vielfältiges Veranstaltungsprogramm rund um den Lummenfelsen an. Bei einer Führung (täglich außer montags um 15 Uhr) können Besucher in die einzigartige Vogelwelt im kleinsten Naturschutzgebiet Deutschlands eintauchen: dem Lummenfelsen.
Der Verein informiert über die Besonderheiten der Helgoländer Klippen und die Ökologie seiner Brutvogelarten. Bei einer Lummensprungführung in den Abendstunden (täglich 21 Uhr) liegt der Fokus voll auf dem Phänomen des Lummensprungs: Die Jungtiere springen in der Abenddämmerung. Warum springen die jungen nicht flugfähigen Lummen? Wann wird die Entscheidung des Sprungs getroffen? Wie finden sie ihre Eltern? Diese und viele weitere Fragen werden beantwortet.
Ornithologische Rundfahrten mit dem Helgoländer Börteboot lassen einen die Klippen aus einer anderen Perspektive betrachten. Hier kann man die Tiere in ihrem eigentlichen Element, dem offenen Meer, und das rege Treiben am Lummenfelsen von der Seeseite aus beobachten. Neben den Hauptattraktionen gibt es noch kleinere Veranstaltungen rund um den Lummensprung. Informationen finden sich unter www.helgoland.de und www.jordsand.de. Tagesgäste haben außer montags die Möglichkeit von 13 bis 15 Uhr die Lummeninformation des Vereins Jordsand direkt am Klippenrandweg zu besuchen. Beim Rundgang können sie einen Blick durch das bereit gestellte Spektiv oder Fernglas auf die besonderen Tiere werfen und Fragen stellen