Elmshorn. Beim Aufräumen taucht ein seltsamer Friedhofsband auf – eine der ältesten Aufzeichnungen über Bestattungen.
Januar 2022: Über den Friedhofstoren kehren die Krähen in die Brutbäume zurück. Ihre Balzrufe schallen über nasse Grabplatten und welke Blumensträuße bis zum Gebäude der Friedhofsverwaltung. Dort räumt Regina Thielsen-Thies, leitende Angestellte, gerade im Büro des Verwalters auf, macht Schränke sauber, packt Bücher in Kisten. Dabei fällt ihr ein abgegriffenes Exemplar auf. „Ich hab’ gesehen, das ist ein altes Grabbuch.“ Auf dem Titelblatt steht: „Verwesungsplatz auf dem Kirchhofe zu Elmshorn“.
Elmshorn: Aufzeichnungen über Beerdigungen in der Stadt
Ein Grabbuch ist das Register aller auf einem Friedhof Beerdigten. Neben den Namen der Toten sind Sterbedatum und Grabnummer aufgeführt. In Elmshorn wurden die Grabbücher immer papierhaft geführt – auch heute noch. „Dieses Buch war jahrzehntelang verschollen. Keiner wusste, dass es existiert. Mysteriös, irgendwie.“ Obergärtner Jörg Münster arbeitet seit 40 Jahren auf dem Friedhof. „Ein seltsames Gefühl. Was ist das denn, dachten wir uns.“
Die Kollegen sehen sich das Artefakt genauer an. Der Einband besteht aus dunklem Leder, das sich rau unter den Fingern anfühlt. Den Buchdeckel übersäen Kratzer und Flecken. Vor dem Titelblatt ist eine merkwürdige Bildseite: Purpurne Blasen, die ineinander fließen.
Finderin Regina Thielsen-Thies schlägt die Titelseite um und liest den ersten Eintrag vor: „Metta Biehl. Geborene ‘zu Langelohe’. Sie ist am 10.08.1883 im Alter von 32 Jahren gestorben.“ Ihre Stimme füllt das kleine Büro ganz aus. „Alle, die hier stehen, sind sehr jung.“ Doch Metta Biehl ist keine Grabnummer zugeordnet. Vor ihrem Namen steht einfach nur „A1“. „Diese Kombination bezeichnet einen sogenannten Verwesungsplatz. A steht für das Feld, 1 für den Platz auf diesem Feld. Damals sind die Toten einfach nebeneinander beerdigt worden.“
Elmshorn: Ungewöhnlicher Fund in der Friedhofsverwaltung
Warum hieß ein Grab damals Verwesungsplatz? Thielsen-Thies hat keine Antwort. Ein Kollege äußert folgende Vermutung: „Wenn man überlegt: 1883 war nun mal eine ganz andere Zeit, und es gab zum Teil auch eine andere Sprache. Das hat man damals wohl einfach so genannt. Es beschreibt ja auch genau, was hier passiert.“
Was bedeutet der Fund für Thielsen-Thies? „Am Ende meiner Karriere hier ist es schon toll, den Unterschied zwischen früher und heute zu sehen.“
1882 wurde der Friedhof an der Friedensallee eröffnet. Der erste Mensch, der hier beerdigt wurde, ist Metta Biehl, Geborene ‘zu Langelohe’, auf Verwesungsplatz A1. Warum hat es ein Jahr gedauert bis zur ersten Bestattung? Die Satzung sei noch nicht fertig gewesen. Das habe knapp zwölf Monate gedauert. Bis zur „Eröffnung“ wurden die Elmshorner an der Gärtnerstraße beerdigt. „Einige Gräber wurden danach verlegt. Bei meiner eigenen Großmutter war das so“, erzählt Thielsen-Thies.
Elmshorn: Das soll nun mit dem Buch geschehen
Die Zukunft des Buches aus der Vergangenheit steht bereits fest. „Das Buch geht ins Kirchenkreis-Archiv nach Stellau. Dort sind auch die anderen alten Grabbücher aufbewahrt.“ Regina Thielsen-Thies hat aber eigene Nachforschungen angestellt. Ist es das älteste hier in Elmshorn? „Nein. Es liegt da noch eins vor 1821.“ Damit ließe sich herausfinden, wo man zuvor bestattet hat. Zurzeit werde sich beraten, ob das Buch digitalisiert wird, um es Interessierten zugänglich zu machen. „Wer das Buch geschrieben hat, weiß man auch noch nicht. Für die Forschung müsste man ins Kirchenarchiv. Vielleicht was für die Rente“, sagt Thielsen-Thies. Und lacht.
Neben der Präsentation des Buches wird auch der langjährige Mitarbeiter Jürgen Gassmann verabschiedet. Er hat 2021 Jahr sein 50-jähriges Dienstjubiläum gefeiert. Für ihn ist der Tod ganz nah. „Ich habe mein Leben lang bei meiner Patentante und meinem Patenonkel gelebt. Er starb schon vor einigen Jahren, sie wurde erst letzte Woche beigesetzt.“ Inmitten der Kapelle, wo die Trauerfeier für seine Adoptivmutter stattfand, kommen dem ehemaligen Friedhofsgärtner die Tränen. Jörg Münster, der lange Jahre mit ihm gearbeitet hat, tröstet ihn. „Herr Gassmann ist ein ganz lieber Mensch. Wir alle haben größten Respekt vor ihm.“
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Elmshorn: Abschied eines langjährigen Mitarbeiters
Auch Thielsen-Thies hat viele Jahre mit ihm zusammengearbeitet. Während sie erzählt, hält sie das Grabbuch eng an ihrer Brust. Warum hat ein altes Buch über den Tod so eine Wirkung auf die Menschen? „Weil das die Vergangenheit ist. Vieles wissen wir nicht mehr und deshalb finden es die Menschen faszinierend – mich eingeschlossen.“ Das Buch im Stellauer Archiv werde sie sich auf jeden Fall ansehen.
Die Gäste der „Buch-Vorstellung“ zerstreuen sich. Obergärtner Jörg Münster führt den trauernden Ex-Kollegen Gassmann aus der Kapelle. Regina Thielsen-Thies erzählt noch einmal die Geschichte der Auffindung des Grabbuches. Zwei Helfer stellen die Stühle vor dem Altar zusammen.
Auf dem Holzkreuz auf dem Altar schaut eine Jesusfigur auf ein Buch hinab, das nicht die Bibel ist.