Itzehoe/Quickborn . Staatsanwältin wirft Irmgard F. (96) Beihilfe zum Mord in 11.000 Fällen vor. Warum F. ein elektronisches Armband tragen muss.
Im Rollstuhl wird Irmgard F. in den Gerichtssaal geschoben, ihr Gesicht verbirgt sie zum Schutz vor den Fotografen hinter einem Kopftuch. Am Dienstag ist vor dem Landgericht Itzehoe einer der letzten großen Prozesse um die Gräueltaten des Nazi-Regimes fortgesetzt worden – diesmal in Anwesenheit der 96-jährigen Angeklagten. Die hatte sich am ersten Prozesstag vor drei Wochen durch Flucht dem Verfahren entzogen und war einige Stunden später in Hamburg festgenommen worden.
Deutlich sichtbar trägt Irmgard F., die zwischen 1943 und 1945 als Stenotypistin im Konzentrationslager Stutthof tätig war und der Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen angeklagt ist, am Handgelenk ein Gerät zur Aufenthaltsüberwachung, ähnlich wie eine elektronische Fußfessel. Gegen diese Auflage hatte das Gericht den Haftbefehl gegen die Seniorin, der nach ihrer Flucht erlassen worden war, außer Vollzug gesetzt und sie nach fünf Tagen in Untersuchungshaft in die Obhut ihres Quickborner Pflegeheims entlassen.
Stutthof: Irmgard F. war Stenotypistin in der Lagerkommandantur
Als die Fotografen und Kamerateams den Saal verlassen haben, nimmt die Mitarbeiterin des gerichtsmedizinischen Dienstes der Angeklagten das Kopftuch und die FFP2-Maske ab. Zum Vorschein kommt eine ältere Dame mit Brille und grauen, lockigen Haaren. Irmgard F. macht einen wachen und fitten Eindruck, sie gibt auf Nachfrage des Vorsitzenden Richters Dominik Groß an, alles zu verstehen, aber etwas schwerhörig zu sein.
Was dann kommt, ist schwer zu ertragen – die Verlesung der Anklageschrift, vorgetragen von Staatsanwältin Maxi Wantzen. Sie geht im Detail auf die grauenvollen Taten in dem KZ Stutthof bei Danzig ein, in dem die heute 96-Jährige in der Zeit vom 1. Juni 1943 bis 1, April 1944 als Stenotypistin in der Lagerkommandantur eingesetzt war. In dieser Zeit soll sich die Angeklagte der Beihilfe zum Mord in 11.387 Fällen schuldig gemacht haben, wobei es in sieben Fällen beim Versuch blieb.
Staatsanwältin: F. wusste von den systematischen Tötungen
„Die Angeklagte hatte Kenntnis aller Geschehnisse und Vorgänge im Lager“, so die Staatsanwältin. Dies sei dadurch begründet, dass Irmgard F. die rechte Hand des Lagerkommandanten Paul-Werner Hoppe war, sie habe alle seine Befehle und Anweisungen verschriftlich und die gesamte Korrespondenz des Kommandanten sei über ihren Schreibtisch gegangen.
Daher habe Irmgard F. „bis ins letzte Detail“ Kenntnis von der systematischen Tötung der antisemitisch verfolgten Gefangenen im Lager gehabt, so die Anklagevertreterin. Sie listet in der Anklage sehr detailreich die Tötungsarten auf, die in dem KZ an der Tagesordnung waren. Die Genickschussanlage, getarnt als ärztliches Untersuchungszimmer, in der in der Dienstzeit der Angeklagten 300 Gefangene starben. Sie hätten sich an die Wand stellen müssen im Glauben, dass ihre Größe vermessen wird, stattdessen wurden sie über einen Durchlass ins Nachbarzimmer per Genickschuss ermordet.
96-Jährige schweigt zu den Anklagevorwürfen
Bis Dezember 1944 habe in dem Lager zudem eine Gaskammer existiert, in der die Gefangenen angeblich nur desinfiziert werden sollten. Stattdessen wurde vom Dach aus das Giftgas Zyklon B eingeleitet, die Opfer erstickten qualvoll. 1000 Tötungen auf diese Art soll es während der Dienstzeit der Angeklagten dort gegeben haben.
Weitere 10.000 Todesfälle gehen laut Anklage auf die lebensfeindlichen Bedingungen zurück, die im Lager herrschten – Hunger, Durst, katastrophale hygienische Verhältnisse, Arbeiten bis zum Umfallen und der Witterung völlig unangepasste Kleidung.
Irmgard F. hört der 15-minütigen Verlesung der Anklage aufmerksam zu. Dann ergreift ihr Verteidiger Wolf Molkentin das Wort und erklärt, dass sich seine Mandantin „zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu den Vorwürfen äußern“ werde. Sollte sie später doch dazu Stellung nehmen, werde sie „keine Fragen beantworten“. Der Jurist selbst nimmt ausführlich zur Anklage Stellung – und betont, dass weder er noch die Angeklagte das furchtbare Mordgeschehen im dem KZ in Abrede stellen würden.
Verteidiger zweifelt an der Version der Anklagebehörde
Seine Mandantin sei keine Ewiggestrige und es sei auch nicht in ihrem Sinne, dass sie – wie in gewissen Kreisen geschehen – zur Ikone der rechten Szene hochstilisiert werde. Sie trete lediglich dem Vorwurf entgegen, auch persönlich eine strafrechtliche Schuld auf sich geladen zu haben.
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Molkentin erinnerte daran, dass Irmgard F. bereits zwischen 1954 und 1982 viermal als Zeugin zu den Geschehnissen in dem Lager ausgesagt hat und nun nach Änderung der Rechtsprechung plötzlich selbst auf der Anklagebank sitzt, während nahezu alle anderen Beteiligten nicht mehr am Leben seien und somit auch nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden könnten. „Das ist schwer zu begreifen.“
Molkentin prophezeit eine schwierige Beweisaufnahme. Die Angeklagte habe keine direkten Berührungspunkte mit dem Geschehen im Innern der Lagerbereiche gehabt, es gebe keine Schriftstücke, die mit dem Namenskürzel von Irmgard F. gekennzeichnet sind. Zudem sei es zweifelhaft, dass der Lagerkommandant sein Wissen um die Gräueltaten tatsächlich mit Mitgliedern niederer Ebenen wie Schreibkräften geteilt habe.
Historiker soll über die Abläufe in dem KZ Stutthof berichten
Die Staatsanwaltschaft müsse beweisen, dass die heute 96-Jährige dezidiert Kenntnis von den Gräueltaten hatte und bewusst und gewollt einen eigenen Beitrag zur Unterstützung geleistet habe. Klappe das nicht, liege juristisch nur eine Beihilfe zum Totschlag vor – und die wäre verjährt.
Das Gericht hat weitere Verhandlungstage bis Juni 2022 angesetzt. Angesichts des hohen Alters und des angegriffenen Gesundheitszustandes der Angeklagten kann nur zwei Stunden pro Prozesstag verhandelt werden. Am 26. Oktober wird erstmals ein Historiker vernommen, dessen Gutachten über die Arbeitsabläufe in dem KZ Bestandteil der Anklageschrift ist.
Nebenklagevertreter Christoph Rückel, der fünf der 31 Nebenkläger in dem Verfahren – überwiegend Hinterbliebene von Stutthof-Opfern – vertritt, hält einen Ortstermin aller Beteiligten im KZ Stutthof für unerlässlich. „Sie alle werden überrascht sein, wie klein Stutthof ist.“ Die Angeklagte habe auf ihrem täglichen Arbeitsweg in die Lagerkommandantur wahrnehmen müssen, dass es dort Gaskammer, Krematorium und Galgen gab, dass dort unmenschliche Bedingungen herrschten. „Es steht außer Zweifel, dass sie mitbekommen hat, was dort geschah.“ Ob das Gericht dem Antrag auf einen Ortstermin stattgibt, entscheidet sich im Laufe des Verfahrens.