Hörnum. 1948 gründen sieben Kommunen das Fünf-Städte-Heim auf Sylt. Zeitzeugen erinnern sich zum 70-jährigen Bestehen an alte Zeiten.
Als der 14 Jahre alte Walter Marquardt mit seiner achten Klasse die erste große Reise antreten soll, ist er schon Tage vorher aufgeregt. Der Augenblick, als er dann mit seinen Schulkameraden das erste Mal über die Dünen stapft und die Nordsee erblickt, ist ihm fest in die Seele gebrannt – bis heute, mehr als 60 Jahre später.
„Wir stürmten ans Wasser, ließen auch nicht ab, als die Klamotten von den Wellen durchnässt waren. Noch Tage später war unsere Lederhose vom Salz der Nordsee knochenhart. Egal, wir haben jeden Moment genossen“, erinnert sich der heute 78-jährige Glückstädter gern an seine Zeit im Fünf-Städte-Heim in Hörnum auf Sylt. Seine Kameraden und er türmten nachts durch die Fenster, verliebten sich, weinten um unerreichbare Mädchen, aßen um die Wette, tanzten und spielten.
Diese Klassenreise liegt mittlerweile 63 Jahre zurück. Doch wie dem Glückstädter geht es vielen Menschen in der Republik. Etwa 430.000 Jungen und Mädchen haben seit der Gründung des Jugenderholungs- und Schullandheims vor 70 Jahren gelacht, geweint, gelernt...
Den einen packt das Hörnum-Fieber, den anderen erschreckt das große Haus, das 1936 von der Luftwaffe des Deutschen Reichs als Offizierserholungsstätte gebaut und nach 1945 für diejenigen hergerichtet worden war, die unter den Folgen des Zweiten Weltkriegs extrem gelitten hatten: Kinder.
Die Idee, ein Ferienheim an der Nordsee für die vom Krieg stark getroffene Jugend zu gründen, stammt wahrscheinlich aus Wedel. Stadtdirektor Heinrich Gau gilt als einer der Wegbereiter des Fünf-Städte-Heims, das Wedel mit Pinneberg, Elmshorn, Uetersen und Barmstedt gründen wollte. Kellinghusen aus dem Kreis Steinburg und die Gemeinde Neuendeich wurden ebenfalls mit einbezogen, weil ein Verein nun mal sieben Mitglieder haben muss. In Barmstedt lehnten letztlich die Vertreter der bürgerlichen Mehrheit den Beitritt zum Fünf-Städte-Verein ab, weil man zu hohe Kosten für die Einrichtung und Instandhaltung vermutete, sodass die Versorgung der Flüchtlinge in der Stadt beeinträchtigt würde. Stattdessen rückte Tornesch als Trägergemeinde nach.
Die Einweihung sollte am 1. Mai 1948 gefeiert werden. Doch mehrfach, zuletzt wegen der Terminschwierigkeiten der Landesregierung unter Ministerpräsident Hermann Lüdemann wurde es der 22. August. Die Weiherede hielt Bildungsminister Wilhelm Kuklinksi. Er sagte: „Der Wille zur Völkerverständigung soll auch von hier aus ausstrahlen. Das Jugendheim muss der Mittelpunkt sein, um den die Jugend aller freier Länder sich schart.“ Zum Festprogramm gehörten ein Wettschwimmen sowie weitere Sportwettkämpfe. Erster Heimleiter war Walter Kählert.
Büro in Uetersen
Zeitung berichtet 1948, dass ein Junge 16 Teller Suppe aß
Am 18. Mai 1948 reisten die ersten 106 Jugendlichen ins Fünf-Städte-Heim. Nach und nach bauten die Verantwortlichen die Belegung auf 400 Betten aus. Dazu kamen noch 500 Plätze in einem Jugendzeltlager. Drei Wochen dauerten die ersten Törns in der Regel. „Das schönste Jugendheim des Landes“ titelte das „Hamburger Echo“ am 13. Juli 1948 und berichtete unter anderem über einen Rekord bei den Essern, die in mehreren Schichten im Speisesaal versorgt wurden. 16 Teller Milchsuppe hatte ein Junge geschafft.
Heute gibt es nur noch wenige, die sich an diese Aufbauzeit erinnern. Einer von ihnen ist Heinz Plickert. Der Pinneberger gehörte zu denen, die für eine andere, eine friedliche Welt streiten wollten. Das engagierte Mitglied der Gewerkschaftsjugend machte 1948 die erste Gruppenleiterschulung in Hörnum mit, und auch ihn packte dieses bislang unerforschte Hörnum-Virus, das ihn immer wieder dorthin führte, an die Nordsee, in den Süden Sylts zwischen Wattenmeer und Wellenstrand, mitten rein in die Dünen, deren Strandhafer im Wind weht, egal, was draußen herum vor sich geht.
„Was damals wichtig war, kann heute niemand nachvollziehen“, sagt Heinz Plickert, inzwischen 89. „Da gab es zum Beispiel den Jungen, der glücklich seinen Eltern berichtete: Ich durfte heute eine ganze Wurst allein essen. Aber genau das war anfangs das Wichtigste: Es ging darum, dass die Kinder satt wurden.“ Aber auch das Zusammengehörigkeitsgefühl, egal ob am Lagerfeuer, beim Toben am Strand oder beim Singen hatte eine ungeheuere Strahlkraft. „Wir sind mit den Kindern mit dem Fischkutter rausgefahren“, erinnert sich der damalige Gruppenleiter.
Eigentum des Trägervereins wurde das ursprüngliche Militärgebäude erst am 1. Januar 1966. Das war vor allem einem Mann zu verdanken: Der damalige Geschäftsführer des Fünf-Städte-Vereins, der Landtagsabgeordnete und Uetersener Bürgermeister Waldemar Dudda, brachte Bundestagsabgeordnete, weitere Politiker sowie Mitarbeiter der Bundesfinanzverwaltung zusammen.
Am Ende ließ der Bund seine Forderung fallen, zwei Millionen Mark für die Eigentumsübertragung zu verlangen. Der Trägerverein bekam für seine hervorragende Jugend- und Sozialarbeit Haus und Grundstück geschenkt. Anschließend begannen die sieben Kommunen, das Haus zu modernisieren und zu erweitern.
Der Pinneberger Heinz Plickert hielt seinen starken Draht zum Haus an der Nordsee, übernahm in den 70er-Jahren den Vorsitz des Fünf-Städte-Vereins und 1978 die Leitung des Ferienheims. Ende 1991 ging er in den Ruhestand. Doch wenn er erzählt, dann leuchtet das Hörnum-Virus, auch wenn er sagt: „Ich halte mich da raus. Alles hat seine Zeit und jeder seinen Stil.“
Auch Walter Marquardt war lange nicht mehr im Fünf-Städte-Heim, aber immer wieder an der Nordsee. Und wenn er erzählt, wie er mit den anderen Jungs erstmals das Leben fernab von zu Hause genossen hat, dann strahlen die Augen, und der Blick geht ganz weit weg: zum Haus am Meer.
* Der Autor, Jahrgang 1959, arbeitet als Journalist und lebt in Hetlingen, wo er seit Kurzem auch Bürgermeister ist. Er engagiert sich seit vielen Jahren im Fünf-Städte-Heim.