Wedel. Die Bewohner der Elbburg haben vor Jahrzehnten eine WG gegründet – mit Haushaltskasse und Gemeinschaftsräumen. Ein Ortstermin.
Es hat schon etwas Verblüffendes. So einfach also kann Zusammenleben sein! Zum Beispiel, wenn in der Elbburg ein neuer Fernseher für das Wohnzimmer angeschafft werden soll und alle zehn Bewohner ein Mitspracherecht haben – jeder von ihnen mit gesundem Selbstbewusstsein und eigenem Geschmack ausgestattet und durchsetzungsfähig. Eigentlich müsste das endlose Diskussionen geben, einen Konflikt hoch fünf, mindestens, und am Ende sind doch alle mit dem Ergebnis unzufrieden? „Wieso“, fragt Martin Schumacher. „Das ist doch ganz unkompliziert. Einer wird bestimmt, das Gerät einzukaufen. Die Prämissen sind klar: Der Fernseher muss in ein bestimmtes Regalfach im Wohnzimmer passen. Das war’s.“
So leicht geht das? Immer? Natürlich nicht. Aber oft. Die Elbburg, das ist eine ganz besondere Wohngemeinschaft in Wedel bei Hamburg, die seit nunmehr 40 Jahren funktioniert, einst von enthusiastischen Studenten gegründet, die das Modell der Kleinfamilie nicht so wirklich schätzten. Und heute noch, da alle im Rentenalter sind, eine Lebensform, die Bestand hat und sogar allerbeste Zukunftsaussichten. Denn hier herrscht ein besonderes Klima, in dem sich alle Bewohner rundum wohlfühlen. Das merkt der Gast sofort.
„Es ist wunderbar einfach, so harmonisch“
Und es kommen oft Besucher. Freunde und Angehörige, die mal nur kurz vorbeischauen wollen und dann doch spontan zum Essen bleiben. Aber auch Neugierige, die wissen möchten, was das Geheimnis dieser zehn Menschen ist und ob sich ihr Lebensmodell, zehn Menschen im Alter von 60 plus in einem gemeinsamen Haus, auch auf andere übertragen lässt, die als Senioren nicht allein wohnen wollen.
Doch im Alter mit so einer Lebensform zu starten, ist sicher nicht einfach. Das Geheimnis des Erfolges ist wohl auch die lange Erfahrung. Martin Schumacher, Diplompolitologe und Journalist und so etwas wie der Außenminister der Elbburg, sagt: „Es ist wunderbar einfach, so harmonisch in einer Wohngemeinschaft zusammenzuleben, wenn man früh damit anfängt und sich formen lässt durch das, was passiert. Es gab schon vorher Freundschaften und Gemeinsamkeiten. Und vieles, was gut läuft, ist erfahren und erarbeitet. Das geht so seit vier Jahrzehnten.“
Zu dem Erfolgsmodell trägt sicher auch Großzügigkeit bei und Toleranz. Denn trotz mancher Gemeinsamkeiten gibt es immer auch Reibungspunkte. „Ich finde nicht, dass wir uns so ähnlich sind“, meint etwa Renate Funck, pensionierte Architektin und ebenfalls von Beginn an in der Elbburg dabei. „Und je älter wir werden, desto deutlicher treten die Unterschiede und Eigenheiten zutage. Aber durch Erfahrung sind wir berechenbarer, das macht den Umgang einfacher. Man kennt sich. Und die Gruppe ist so groß, dass mal mit dem einen und mal mit dem anderem mehr angefangen werden kann. Zum Beispiel bei den Urlauben: Da gibt es ganz unterschiedliche Konstellationen.“ Und auch sonst finde sich immer jemand, mit dem man wahlweise Fußball oder Herz-Schmerz-Filme sehen kann.
Mit 16 Gleichgesinnten probten sie das WG-Leben anfangs am Wochenende
Am Anfang der Wohngemeinschaft standen Freundschaft und der Wunsch nach Veränderung. Mit 16 Gleichgesinnten mieteten die Schumachers damals in der Göhrde einen Bauernhof, auf dem sie am Wochenende zusammenlebten. So wollten sie herausfinden: Wie geht das, wie sozialverträglich sind wir? Am Ende blieb ein harter Kern von zehn Leuten, die das Wohnprojekt ernsthaft angehen wollten. In Wedel entdeckten die Schumachers, ihre Freunde Jutta und Eggert Rohwer, Renate Funck und fünf andere vor 40 Jahren die Elbburg, einen schönen dreigeschossigen Backsteinbau, der schon Hotel, Bordell und Studenten-WG gewesen war und einer Erbengemeinschaft gehörte. Bei einer Zwangsversteigerung gelang es ihnen, das große Haus zu erwerben.
Der tiefere Zweck des Zusammenlebens war einfach: „Wir wollten beruflich sehr aktiv sein und trotzdem Kinder haben“, erzählt Martin Schumacher. „In einer Kleinfamilie hätten wir das nie organisiert gekriegt. Doch so war rund um die Uhr jemand da. So sind sie fast wie Geschwister aufgewachsen.“ Ute und Reimer Vellguth sind zehn Jahre später dazugestoßen, nachdem ein anderes Ehepaar, das sich getrennt hatte, ausgezogen war. „Unsere Kinder waren damals fünf und sechs Jahre alt“, erzählt Ute Vellguth. „Damals ging es überwiegend darum, Kinder und Beruf besser unter einen Hut bringen zu können. Heute ist es vor allem die Möglichkeit, Kontakte zu haben. Man findet immer Menschen, mit denen man etwas zusammen unternehmen kann, Kultur, Reisen, Kino.“
Vielfalt gibt es bei den Interessen. Manche gehen zum Pilates, andere zum Schwimmen, wieder andere segeln. Im Bereich Flüchtlingshilfe sind mehrere von ihnen aktiv. Dabei reicht die Bandbreite von der Betreuung einer Einzelfamilie über die Beschaffung von Spenden oder Deutschunterricht.
Juristisch steht die WG auf sicheren Füßen. Zu Beginn wurde ein Vertrag aufgesetzt, in dem auch festgeschrieben wurde, dass ein Bewohner nicht kurzfristig aussteigen kann und dann ausgezahlt werden müsste. „Es war vereinbart, dass man sein Geld erst über längere Zeit bekommt. Unser Wohnmodell sollte nicht gefährdet werden“, erklärt Renate Funck. Zudem wurde festgelegt, wer wofür verantwortlich ist, wer etwa die Haushaltskasse führt, wer für den Garten zuständig ist. „Was wir aber nicht verteilen wollten, waren Putzdienste. Deshalb haben wir von Beginn an eine Haushälterin gehabt.“
In den oberen Etagen haben alle Bewohner private Räume
Die kümmert sich vor allem um das Erdgeschoss des Hauses, das gemeinsam genutzt wird, die großzügige Küche, den riesigen Wohn- und Essbereich sowie das Billardzimmer, das früher, als die meisten von ihnen noch kleine Kinder hatten, Tobe-Zimmer war. Im ersten und zweiten Stock des ehemaligen Hotels hat jedes Paar beziehungsweise jeder Single seine eigenen vier Wände, jeweils rund 100 beziehungsweise 50 Quadratmeter groß und komplett ausgestattet mit Küche und Bad. Also jede Menge Rückzugsmöglichkeiten und Privatsphäre. Schumacher: „Wir machen viel gemeinsam, aber es gibt auch viel Freiwilligkeit.“
Zum Beispiel bei den Mahlzeiten. „Wir frühstücken individuell, aber am Wochenende oft gemeinsam“, erzählt Renate Funck. „Gekocht wird umschichtig, da gibt es relativ wenig Stress.“ Im Eingang steht eine Tafel, darauf heißt es zum Beispiel: Heute kocht Elfi. Wenn einer keine Zeit hat, schreibt er eine Notiz darunter. So einfach ist das. Und die Finanzierung? „Jeder zahlt in die Haushaltskasse denselben Betrag ein, das gilt auch zum Beispiel für die Einkäufe von Wein“, erzählt Martin Schumacher. „Auch wenn der eine vielleicht mehr trinkt oder isst und der andere weniger: Am Ende gleicht sich alles aus.“ Renate Funck ergänzt: „Es funktioniert wie in einer Familie. Da rechnet man ja auch nicht alles einzeln ab.“
Doch nicht alles geschieht so reibungslos. „Nehmen Sie die Konflikte, die Ehepaare haben, und das Ganze vervielfacht sich“, sagt Schumacher. Renate Funck zum Beispiel kann sich furchtbar darüber aufregen, wenn Türen offen stehen. Oder einer macht mal einen Fehler in der Wortwahl, und schon kann es hoch hergehen. „Dann ist es wie in einer Partnerschaft.“ Und auch heftige Diskussionen sind nicht selten. Weil jeder von ihnen einen relativ anspruchsvollen Beruf ausgeübt hat wie Lehrer oder Architekt, „ist es spannend, unterschiedliche Sichtweisen und Erfahrungen auszutauschen“, sagt Schumacher. „So kriegen wir immer wieder mit, dass die Welt nicht nur so ist, wie man sie selber sieht.“ Das erweitert den Horizont – und ebenso die Harmonie. „Ein bisschen hilft der Gedanke, dass man hier aufgefangen wird“, sagt Ute Vellguth. „Die Elbburg ist ein Netz mit engen Maschen.“