Wedel. In der Adventszeit stellen wir in einer vierteiligen Serie Menschen und ihre schönsten Weihnachtsgeschenke vor. Heute: Maria Radden aus Wedel.

Das Weihnachtsfest, das der Wedelerin Maria Radden unter allen Festen ihres 81-jährigen Lebens in ganz besonderer Erinnerung geblieben ist, liegt zwar lange zurück, ist ihr aber immer noch ganz nah. „Es war im Dezember 1946“, sagt sie. „Meine Familie lebte zu der Zeit auf Spiekeroog in einem Haus ohne fließendes Wasser, mit Kohleofen und Toilette ohne Wasserspülung.“ Harte Zeiten waren das für die kleine Familie, die von Blankenese auf die Insel gezogen war, weil der Vater eine Anstellung als Lehrer in der Internatsschule bekommen hatte. Maria Radden hatte immer wieder Heimweh nach Blankenese, ihr vier Jahre jüngerer Bruder Gerhard jedoch empfand Spiekeroog bereits als Heimat.

Kalt war dieser Nachkriegswinter, so eisig, dass das Watt gefror und die Inselbewohner zwei Monate lang vom Festland abgeschnitten waren. „Es war ein extremes Leben – in jeder Beziehung“, erinnert sich Maria Radden.

Als die Adventszeit anbrach, begann für alle auch die Vorfreude auf das Weihnachtsessen. Im Vorfeld legte die Mutter, wo immer es nur ging, Lebensmittelmarken beiseite. „Wie es damals so war, wurden die Lebensmittel rationiert. Sie versuchte also Mehlmarken und Fleischrationen anzusparen.“ Wenigstens ein kleiner Braten und ein Kuchen sollten an Heiligabend auf dem Tisch stehen.

Das war eine Herausforderung, denn zu dieser Zeit entsprach die vorgesehene Tagesration für erwachsene Normalverbraucher 1550 Kilokalorien, von denen nun sogar noch eingespart werden musste. Die alteingesessenen Insulaner hatten Tiere. Maria Radden erinnert sich, dass jede Familie wenigstens eine Kuh, Schweine und Hühner besaß, ihre eigene allerdings nicht. „Wir hatten zwar einen kleinen Garten, aber der Boden auf einer Düneninsel ist nicht sehr fruchtbar, da wuchs nicht viel.“ Der Entbehrung versuchte die Mutter mit Improvisation zu begegnen. Aus den verfügbaren Kohlköpfen wurde Sauerkraut gemacht, das es dann wochenlang zusammen mit eigentlich als Tierfutter gedachten Bohnen gab.

Maria tauschte Tee gegen Fische ein

Sie erinnert sich an ein Brieffragment ihres Bruders, das erhalten geblieben ist. Darin schreibt er seiner Tante Trude, dass er weder morgens noch abends satt werde und „mittags manchmal auch nicht“. Die Kälte, der ewige Ostwind, der Hunger, „was die Frauen da geleistet haben, um mit den Familien zu überleben, war unglaublich“.

Manchmal wurde die kleine Maria losgeschickt, um den Tee, den Ostfriesen zugeteilt bekamen, auf dem Festland bei den ankommenden Fischerbooten gegen deren Ware einzutauschen. Mal klappte das, mal nicht. Am Bahnhof wartete die hungrige Familie auf ihre Rückkehr. Schlimm war es für sie, wenn sie mit leeren Händen zurückkehren und ihre Lieben enttäuschen musste. „In die Verantwortung waren wir als Kinder voll miteinbezogen. Das empfanden wir nicht als Belastung, das wurde zur Normalität.“ Gelebte Kindheit sieht anders aus.

Es gab zwar Wichtigeres als die Adventsdekoration, aber sie hatte immergrüne Zweige, aus denen ein Kranz gebunden werden konnte, und für den Weihnachtsbaum wurden die Kerzen selbst gegossen. Kerzen als Lichtquelle, das hatte weniger eine romantische Note, sondern war vielmehr aus der Not heraus geboren, da der Strom nur eine Stunde am Tag und eine in der Nacht verfügbar war.

So entbehrungsreich die Situation, so groß der Zusammenhalt. Radden erinnert sich an die Solidarität innerhalb der Familie und zwischen den Geschwistern. Ihren Bruder Gerhard beschreibt sie als „einen ganz Sensiblen“, dem sie auch leid tat, als es ihr etwa eine Woche vor Weihnachten schlecht ging. Eine Magen-Darm-Infektion hatte sie erwischt. Durch die Mangelernährung hatten alle weniger Abwehrkräfte und so zog sich die Erkrankung über Tage hin. Maria Radden fühlte sich nicht nur schlecht, sie hatte auch Angst, nicht am Weihnachtsessen teilnehmen zu können. „Das Essen war so wichtig, viel wichtiger als Geschenke. Das Gefühl, Hunger zu haben, war ein Dauerzustand.“ Abgesehen davon, hätte es auch gar keinen Sinn gehabt, sich etwas zu wünschen. „Es gab ja gar nichts.“

Zuteilung von drei Äpfeln für den Bruder

So lag sie dann also im Bett im Zimmer, das nicht geheizt wurde und Eisblumen am Fenster hatte – innen wie außen. Und wartete, ja hoffte auf Besserung. Inzwischen war der 23. Dezember angebrochen. An diesem Morgen bekam die Mutter für den Sohn drei Äpfel zugeteilt, da er unter zehn Jahren alt war – eine unerhoffte Kostbarkeit.

Da geriebene Äpfel als Hausmittel bei Magen-Darm-Erkrankungen galten, fragte sie Gerhard, ob er seiner Schwester die Äpfel schenken würde. Der Junge stimmte zu, die Mutter zerrieb einen der Äpfel mit einer Glasreibe, die Maria Radden heute noch besitzt, und gab das der Tochter zu essen. Der zweite folgte mittags, der dritte Apfel am Abend. Heiligabend war sie kuriert. „Ich war unendlich glücklich, dass ich nun zusammen mit den anderen den Weihnachtsbraten und den Kuchen essen konnte.“ Für sie wurden die Äpfel als Weihnachtsgeschenk von keinem nachfolgenden mehr übertroffen.

Der Hunger ihrer Kindheit hat bei Maria Radden tiefe Spuren hinterlassen. Ihren Enkeln ist das glücklicherweise erspart geblieben. „Es hat lange gedauert, bis ich begriffen habe, dass Kinder nicht immer Hunger haben.“