Schenefeld. Seit Monaten fehlen dringend benötigte Schulbegleiter für autistische Kinder. Eltern, Lehrer, Kinder leiden unter der Situation an der Gemeinschaftsschule.

Claudia Pritzkow kann nicht mehr. Sie schläft schlecht. Hat Schweißausbrüche. Herzrasen. Das vergangene Jahr hat der Mutter eines 13-jährigen Jungen sichtlich zugesetzt. „Es vergeht fast kein Tag, an dem nicht irgendetwas passiert, es nicht irgendein Problem gibt“, bericht die Schenefelderin. Prügeleien, Mobbing, Streitereien: Leon leidet in der Schule. „Es kostet unendlich viel Kraft. Du bist allein, niemand hilft dir. Dabei möchte man nur das Beste für sein Kind.“

Angefangen haben die Probleme mit dem Wechsel ihres Sohnes von der Grundschule auf die Gemeinschaftsschule. Leon hat eine autistische Störung. In Mathe ist er hochbegabt, in anderen Bereichen hat er starke Defizite. Leon kann sich schlecht konzentrieren, ist zwanghaft und kann Veränderungen schwer verarbeiten. Er braucht eine zusätzliche Förderung und intensivere Betreuung, um den Schulalltag bewältigen zu können. Doch an der nötigen Förderung hapert es laut Pritzkow gewaltig. Und Leon ist kein Einzelfall.

Überforderte Lehrer, verunsicherte Schüler, leidende Kinder

Überforderte Lehrer, verunsicherte Schüler, leidende Kinder – ob mit oder ohne Behinderung: Das Bild, das Elternvertreter und Betroffene einhellig schildern, ist vernichtend. Das Scheitern der Inklusion, wovor Experten wie auch der ehemalige Wedeler Rektor Antonius Soest warnten, scheint in Schenefeld Realität geworden zu sein. Leon und die anderen betroffenen Kinder gehören zum ersten Jahrgang an der Schule, bei dem das geänderte Schulgesetz in Schleswig-Holstein greift. Das sieht die Abschaffung der Förderzentren in ihrer bisherigen Form vor. Kinder mit Behinderung sollen in Regelschulen integriert werden.

„Im Prinzip kein schlechter Gedanke“, sagt Pritzkow. „Aber es klappt nicht, weil von dem, was uns versprochen wurde, nichts eingehalten wird.“ Das Versprechen lautet: differenzierte Förderung. Ein Baustein zum Gelingen sind die Schulbegleiter. Sie werden zur Unterstützung von Kindern mit körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung eingesetzt. Eltern beziehungsweise ihre Kinder haben einen rechtlichen Anspruch auf die Förderung. In der Theorie. Praktisch sieht es anders aus.

Angelika Plenge und Ramona Jagusch haben ebenfalls Kinder mit autistischer Störung an der Gemeinschaftsschule Schenefeld. Sie berichten wie Pritzkow von langwierigen Auseinandersetzungen, Kämpfen mit dem Jugendamt, der Lebenshilfe Schenefeld als vom Kreis beauftragten Träger sowie der zuständigen Kreisbehörde. Doch es passierte nichts. Bis zu neun Monate standen die Eltern ohne den ihnen zustehenden Schulbegleiter da.

Kind wollte lieber sterben, als zur Schule zu gehen

Das wirkte sich auf den Schulunterricht aus, der teilweise nicht möglich war, und es wirkte sich auf die betroffenen Kinder aus, die in den Pausen zum Ziel der Mitschüler wurden. Als herauskam, dass die Klassenreise wegen der Schüler mit Behinderung und dem verbundenen Betreuungsaufwand ausfallen sollte, lauerten Schüler den Kindern auf dem Heimweg auf. „Die Situation war so schlimm, dass mein Kind sterben wollte“, sagt Plenge. Drei Monate kam ihr Sohn in die Kinderpsychiatrie. Plenge hat genug vom konzeptlosen Inklusionsexperiment auf Kostens ihres Kindes. Sie würde ihr Kind sofort bei einer Sonderschule anmelden, wenn es die noch gebe.

Dass es Probleme in diesem Bereich gibt, räumt die zuständige Kreisverwaltung ein. „Es ist schwer, Personal zu finden. Das hängt mit der prekären Arbeitssituation aufgrund des schlechten Gehaltes zusammen“, erklärt Sprecher Oliver Carstens. Christoph Helms ergänzt: „Natürlich sind wir bemüht, die Schulbegleitung für die Kinder sicherzustellen. Aber wir merken, dass die Träger zunehmend Probleme haben, welche zu finden“, so der Fachbereichsleiter für Jugend und Soziales. „Es gibt in diesem Bereich viel Nachsteuerungsbedarf.“ Feste Verträge mit einer höheren Vergütung könnten Interessenten locken und die Situation entspannen. Das kann sich der verschuldete Kreis Pinneberg nicht leisten. Laut Kreisverwaltung gibt es derzeit 181 Betreuungsfälle, die auf einen Schulbegleiter angewiesen sind. Kosten: zwei Millionen Euro. Tendenz steigend. Hinter den Kulissen wird mit dem Land um die Kosten gerungen. Das dauert.

„Das ist ein Unding“, sagt die Schenefelder Schulleiterin Ina Baumert, die wie die Eltern bei den zuständigen Behörden und Trägern um Hilfe bat. Ohne Erfolg. „Wir haben an der Schule riesige Probleme.“ Es könne nicht sein, dass so etwas den Schulen übergestülpt werde, ohne die nötigen Ressourcen für die betroffenen Kinder mit Autismus zur Verfügung zu stellen.

Elternbeirat der Gemeinschaftsschule appelliert an Bildungsministerin

Patricia Holtschneider und Birgit Rogge, Mitglied im Elternbeirat der Schenefelder Gemeinschaftsschule, haben sich aufgrund der sehr schwierigen Lage in einem Brief an Britta Ernst gewand. Die Antwort der Ministerin für Schule und berufliche Bildung in Schleswig-Holstein lässt sie enttäuscht zurück. Denn Ernst geht in ihrem Antwortschreiben auf das Problem Schulbegleitung gar nicht ein. Verweist lediglich darauf, dass die Schenefelder Gemeinschaftsschule zu den Schulen im Kreis Pinneberg gehört, die mit 33 Schülern eine große Anzahl von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf inklusiv beschult. Die Schule erhalte deshalb Unterstützung durch Kollegen vom Förderzentrum in Höhe von 66,5 Lehrerwochenstunden. „Die Situation der Schule entspricht damit der an anderen Gemeinschaftsschulen im Kreis Pinneberg, welche inklusiv unterrichten.“

Plenge und Pritzkow reicht es. Sie haben sich einen Anwalt genommen, um ihre Rechte durchzusetzen. Mit Erfolg. Vor einigen Tagen klingelte plötzlich nach mehr als einem Dreivierteljahr das Telefon. Der neue Schulbegleiter meldete seinen Besuch an.