Zwar geht die Zahl der Inobhutnahmen im Kreis Pinneberg zurück, die Verweildauer in Kinderschutzhaus oder Pflegefamilien und die Zahl der psychischen Erkrankungen nimmt jedoch stark zu
Kreis Pinneberg. Im vergangenen Jahr mussten 221 in Not geratene Kinder und Jugendliche im Kreis Pinneberg aus ihren Familien herausgenommen werden. Die Inobhutnahme ist die radikalste Maßnahme des Jugendamtes, wenn das Kindeswohl gefährdet ist. Insgesamt 118 jugendliche Mädchen und 50 Jungen fanden im Kinderschutzhaus des gemeinnützigen Vereins Perspektive in Elmshorn Schutz. Die Perspektive arbeitet im Auftrag der Jugendämter und Sozialen Dienste im Kreis. Die Kleinsten kommen in Bereitschaftspflegefamilien unter. Im Jahr 2013 waren es 53 Säuglinge und Kinder. Das geht aus dem Jahresbericht der Perspektive hervor.
Zwar ist die Zahl der Inobhutnahmen im Vergleich zum Vorjahr um 9,4 Prozent zurückgegangen, die Verweildauer jedoch stark gestiegen. Blieb ein Jugendlicher 2012 durchschnittlich 20,6 Tage im Kinderhaus, waren es im vergangenen Jahr 21,9 Tage. Besorgniserregend ist die Entwicklung in den Bereitschaftspflegefamilien. Hier lag die Verweildauer bei durchschnittlich 117,3 Tagen, im Vorjahr lediglich bei 67,4 Tagen. Ein Grund: Psychologische Gutachten und unabhängige Gerichtsverfahren, die über den weiteren Verbleib der Kinder entscheiden, ziehen sich oftmals über Wochen und Monate hin. Häufig ist es die Altersgruppe der bis zu Dreijährigen, die monatelang aus ihren Familien herausgenommen werden.
„Die lange Verweildauer von Kleinkindern ist sehr bedenklich“, sagt Eckbert Jänisch, Geschäftsführer der Perspektive. Gerade in den ersten Lebensjahren seien die sozialen Beziehungen besonders prägend. Zudem reichten die 16 Bereitschaftspflegestellen im Kreis nicht aus und waren zu 108 Prozent belegt. „Nur durch die enorme Flexibilität und ein hohes Engagement aller Beteiligten war es möglich, dem hohen Unterbringungsbedarf gerecht zu werden“, sagt Jänisch. „Wir brauchen dringend mehr Menschen, die bereit sind, vorübergehend ein Kind aufzunehmen bis entschieden wird, ob sie in eine Pflegefamilie oder zurück in ihre Herkunftsfamilie kommen.“
Aus dem Bericht der Perspektive geht auch hervor, dass es im Schutzhaus wiederholt zur Aufnahme von Hoch-Risiko-Klienten kam. Dabei handelt es sich um „sogenannte Systemsprenger, die das Versorgungsangebot der Perspektive exzessiv beanspruchen und gleichzeitig jegliche Art von Hilfe verweigerten“. Sie stellen die Mitarbeiter vor besondere Herausforderungen. „Die Zahl der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen mit psychischen Erkrankungen nimmt zu“, sagt Jänisch. In 47 Fällen hatten die Kinder und Jugendliche bereits Kontakt mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie, bevor sie den Weg ins Schutzhaus fanden.
Die Altersgruppe der 16- und 17-Jährigen, die im Schutzhaus unterkommen, ist um fast 24 Prozent gestiegen und stellten einen Anteil von fast 43 Prozent. Das liegt unter anderem daran, dass die Toleranzen zwischen Eltern und Jugendlichen abnehmen. Streitigkeiten eskalieren schneller als früher. Zu 16 Prozent melden sich die Minderjährigen selbst im Schutzhaus. 13 Prozent werden von der Polizei vermittelt. In fünf Prozent aller Fälle suchten die Eltern den Kontakt zum Schutzhaus.
Inobhutnahmen ziehen sich durch alle sozialen Schichten. „Oft sind die Ansprüche an die Kinder sehr hoch“, sagt Jänisch. „Das sind dann diejenigen, die freiwillig zu uns kommen.“ Gesellschaftliche Umbrüche seien deutlich zu spüren: Steigende Scheidungsraten, die in Kleinkriege ausarten und auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werden. Isolierte Alleinerziehende, die über keinerlei soziale Netze verfügen und auf Hilfe der Jugendämter angewiesen sind. Die Zahl der Kinder in Bereitschaftspflege, die aus Familien mit nur einem Elternteil stammen, lag mit 66 Prozent auffallend hoch. „Es kommt vor, dass eine alleinerziehende Mutter, die operiert werden muss, zu uns kommt und ihr Kind in Obhut geben will, weil sie keine andere Lösung weiß“, sagt Inka Risch, die seit 2007 bei der Perspektive arbeitet. Auch das Großelterndasein habe sich verändert. Selbstverwirklichung steht im Vordergrund, der familiäre Verbund löst sich auf.
Andreas Reinsdorff, Leiter der Sozialen Dienste in Pinneberg, sieht einen allgemeinen Werteverfall. „Werte wie Disziplin, Fleiß oder Pünktlichkeit verlieren an Bedeutung.“ Zudem steigen die Anforderungen der Umwelt. Medien machen weiß, jeder könne ein Superstar sein. „Viele denken, individuell ist besonders“, sagt Reinsdorff. Aber das seien alles nur Theorien; Erklärungsversuche, warum Erkrankungen im sozial-emotionalen Bereich zunehmen. Unumstritten ist, dass Kinder von psychisch erkrankten Eltern ein höheres Risiko haben, selbst psychisch zu erkranken.
Wann ein Kind in staatliche Obhut genommen werden muss, ist ein Balanceakt. Denn die Herausnahme aus der Familie kann für das Kind eine Traumatisierung bedeuten. Zudem ist das Elternrecht ein hohes Gut und wurde in den vergangenen Jahren noch gestärkt. „Die Gerichte entscheiden nach dem Grundgesetz. Das macht es nicht immer leicht, vor Gericht zum Wohl des Kindes zu argumentieren“, sagt Cornelia Lohmann-Niemann, Fachdienstleiterin Jugend und Soziale Dienste. Die Trennung des Kindes von seiner Familie sei aber auch nicht der Zustand, den die Jugendämter anstreben. Vielmehr soll die Zeit der Trennung genutzt werden, möglichst mit allen Beteiligten, eine Lösung zu finden.
„Wir prüfen, ob die Eltern noch Ressourcen mobilisieren können“, sagt Reinsdorff. Bei einer Alkoholikerin, die es schafft, den Alltag ihrer Kinder einigermaßen zu regeln, kommt eine Inobhutnahme vermutlich nicht infrage. Kommt hinzu, dass die Wohnung stark verschimmelt ist oder dass Messer oder Tabletten offen rumliegen und für Kleinkinder leicht zugänglich sind, ändert das die Situation, da die Gesundheit der Kinder gefährdet ist. Nicht immer sind die Anzeichen für eine Kindeswohlgefährdung offensichtlich. Doch es gibt wichtige Anhaltspunkte: Massive oder wiederholte Anzeichen von Verletzungen, Unterernährung, verdreckte Kleidung, fehlende Körperhygiene. Aber auch wenn die Schutzbefohlenen der Schule fern bleiben, sich stark gewalttätig verhalten, häufig Straftaten begehen, sich berauschen, apathisch wirken, wägt das Jugendamt ab.
Wer derartige Anzeichen beobachtet, sollte sich nicht scheuen, Jugendamt, Polizei oder Mitarbeiter der Perspektive zu informieren. „Wir rücken lieber einmal mehr aus, als einmal zu wenig“, sagt Jänisch.