Dieses Jahr gab es schon 69 Fälle von häuslicher Gewalt, die im Klinikum Pinneberg untersucht wurden. Dokumentation von Verletzungen kann bei folgenden Prozessen entscheidend sein.
Pinneberg. Julia ist 15 Jahre alt, als sie in ein Krankenhaus im Kreis Pinneberg kommt. Die Ärzte dokumentieren eine Schädelprellung, machen ein Foto. Ihr Vater soll sie brutal verprügelt haben. Julia hat noch diverse andere Verletzungen, die werden allerdings nicht dokumentiert. Julia kommt in ein Kinderschutzhaus.
Schließlich nimmt das Jugendamt Julia unter seine Obhut, das dann Kontakt zu Dr. Nadine Wilke aufnimmt. Sie ist Medizinerin am Institut für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Wilke bietet Julia an, sie noch auf weitere Verletzungen zu untersuchen. Nadine Wilke findet unzählige Hämatome im Becken- und Brustkorbbereich sowie an den Armen und Beinen. Sie stellt ein Gutachten aus. Julia zeigt ihren Vater an. Die Ermittlungen der Kripo laufen.
Julias Geschichte ist kein Einzelfall. Dieses Jahr gab es im Kreis Pinneberg schon 36 Fälle von häuslicher Gewalt, die ohne eine polizeiliche Anzeige von der Untersuchungsstelle behandelt wurden, also von einem Frauenhaus oder vom Jugendamt gemeldet wurden. 33 Fälle wurden auf Initiative der Polizei gemeldet. Dass diese Zahlen im Kreis keine Dunkelziffern mehr sind, ist auch Nadine Wilke zu verdanken.
Im Rahmen einer Forschungsarbeit vor knapp vier Jahren fiel ihr ein Missstand im Kreis Pinneberg auf. Als sie bei Hausärzten nachfragte, sagte man ihr, häusliche Gewalt komme hier nicht vor. „Es war wie ein schwarzes Loch“, sagt Wilke. Opfer häuslicher Gewalt hatten keine Möglichkeit, direkt im Kreis Hilfe zu erlangen. Dafür mussten sie erst nach Hamburg in die rechtsmedizinische Untersuchungsstelle des UKE fahren, für viele ein unüberwindbarer Weg. Die Ambulanz in Hamburg wurde in zehn Jahren von nur neun Prozent der bekannten Gewaltopfer aus dem Kreis Pinneberg von sich aus in Anspruch genommen, die übrigen wurden von der Polizei dorthin weiterverwiesen. Wilke ging von einer hohen Dunkelziffer aus. So kam ihr die Idee, Außenstellen des UKE ins Leben zu rufen.
Eine befindet sich seit 2010 im Verein Wendepunkt in Elmshorn, die andere im Regio Klinikum in Pinneberg. Beide sind Tag und Nacht zugänglich, die Untersuchung ist kostenlos, man braucht keine Krankenkassenkarte. Diese Untersuchungsstellen sind wichtig, weil sie eine andere Art der Dokumentation von Verletzungen durchführen, als Krankenhäuser nach der Notaufnahme oder Hausärzte. Wie im Fall Julia, als die Ärzte nur ein überbelichtetes Foto ihrer Kopfprellung machten und ein Attest darüber ausstellten.
Wichtig für eine Gerichtsverhandlung ist ein Gutachten aller Verletzungen mit Fotos. „Ein Hausarzt dokumentiert einen blauen Fleck am Arm mit ‚Prellmarke rechter Arm‘. Ich schreibe: ‚vier Fingerkuppen große rötlich-violett-farbene Hautunterblutung an der rechten Unterarmseite‘“, sagt Wilke. Dazu geben Rechtsmediziner eine Interpretation und Bewertung der Befunde. Bei einem Fall vor Gericht, in dem Aussage gegen Aussage steht, kann das dem Opfer zugutekommen.
10.000 Euro stellt der Kreis jährlich für die Kosten der Untersuchungen zur Verfügung. „Noch reicht das“, sagt Nadine Wilke. Weil die Zahl der Opfer aber zunimmt, bemüht sie sich um Unterstützung. Hier kommt der Lions Club Pinneberg ins Spiel. Während eines Benefiz-Golfturniers im Juni sammelten die Löwen 25.000 Euro für den guten Zweck. 15 000 Euro spendeten sie an die Außenstelle des UKE im Regio Klinikum. Das Geld wurde unter anderem in die Umgestaltung des Behandlungsraumes im Regio Klinikum investiert. Der Raum wurde gemütlicher: die Wand ist lindgrün, eine Janosch-Tapete verziert die Kinderecke und eine Sitzgruppe in der Mitte des Raumes lädt zu Gesprächen ein. Der Hauptanteil der Summe, 9600 Euro, flossen in die Anschaffung eines Kolposkops – ein Mikroskop mit Kamera für die Untersuchung von Kindern, die sexuellen Missbrauch erlitten haben. Die Handpuppen Hanna und Eric helfen spielerisch bei den Untersuchungen der Kinder. „Wir können sehen, wo das Geld geblieben ist“, sagt Wilfried Kniffka, Vorsitzender der Fördergemeinschaft des Lions Clubs.
Bei sexuellem Missbrauch findet man bei über 90 Prozent der Opfer keine äußerlichen Verletzungen. Hier ist eine psycho-traumatologische Betreuung sehr wichtig. Dies ist auch im UKE möglich. „Jeder kann sich an uns wenden“, sagt Wilke. Opfer häuslicher Gewalt können 24 Stunden über das Institut für Rechtsmedizin am UKE unter Telefon 040/741 05 2127 Hilfe bekommen. Eine anonyme Vermittlung erfolgt über Wendepunkt e.V. unter Telefon 0157/844 812 15. Die Kontaktaufnahme ist auch über das Jugendamt, Frauenhäuser und Ärzte möglich.