Das Jugendamt arbeitet seit Januar nach dem Prinzip der Sozialraumorientierung: Problem-Familien sollen befähigt werden, sich selbst zu helfen. Das wirke nachhaltiger und spare Steuergeld.
Norderstedt Es ist ein sperriges Wort – Sozialraumorientierung. Doch es umschreibt etwas zutiefst Menschliches, nämlich die Mitmenschlichkeit, das Achten der Bürger aufeinander. Norderstedts Sozialdezernentin Anette Reinders umschreibt es so: „Ein Stück Dorf, in dem die Menschen starke soziale Bindungen zueinander haben, wird in die Stadt geholt.“
Seit dem 1. Januar hat das Norderstedter Jugendamt das gemacht. Es arbeitet nach dem Prinzip der Sozialraumorientierung. Eine kleine Verwaltungs-Revolution, die für die Mitarbeiter des Amtes einen grundsätzlich veränderten Arbeitsablauf bedeutet. Das Jugendamt schwebt jetzt nicht mehr als gesetzliche Instanz mit seinem Jugendhilfe-Budget über den Problem-Familien und versucht nach Schema F den Einzelfall mit professionellen, pädagogischen Maßnahmen aus seiner sozialen Schieflage zu holen. Die Jugendarbeiter aus dem Rathaus weiten ihren Blick aufs Ganze, sehen nicht nur das Kind oder den Jugendlichen und seine Probleme, sondern auch, welche Rolle dabei sein Umfeld spielt und wie dieses dabei helfen kann, dass sich die Dinge zum Guten wenden.
„Wenn eine Mutter oder ein Vater alkoholkrank sind und die Kinder müssen für die Zeit der Entgiftung des Elternteils untergebracht werden, dann werden sie nicht mehr automatisch in teuren staatlichen Unterkünften einquartiert und aus ihren sozialen Zusammenhängen gerissen“, sagt Anette Reinder. „Wir schauen im Quartier nach, ob es nicht jemand in der Verwandschaft oder dem Freundeskreis gibt, der für die Zeit bei den Kindern einziehen kann.“
Die Stichworte der Sozialraumorientierung sind nicht Bevormundung, Anordnung oder Entmündigung. Die Hilfe zur Selbsthilfe steht im Zentrum der Bemühungen. Man wolle, so Reinders, die Bewohner der Sozialräume dazu bringen, Eigeninitiative zu entwickeln und Verantwortung für ihr Quartier zu übernehmen, sie „selbstbefähigen, ihren Weg zu gehen“. Reinders: „Es ist ja nicht so, dass wir als Amt genau wissen, was für die Menschen gut ist. Das wissen die selbst viel besser.“ Augenhöhe sei wichtig und die Akzeptanz, dass „bestimmte Menschen auch bestimmte Bedürfnisse und Lebensweisen haben“.
Konkret wurde in Norderstedt die Jugendarbeit völlig neu strukturiert. Die Stadt wurde in zwei Regionen – Nord und Süd – und diese Regionen wieder in jeweils zwei Sozialräume unterteilt. Die etwa 4,5 Millionen Euro, die das Jugendamt im Jahr für die sogenannten Hilfen zur Erziehung ausgeben darf, werden nach den Anteilen der Kinder und Jugendlichen an den Einwohnern in den Sozialräumen aufgeteilt. „Die ,Grenze’ der Regionen verläuft etwa auf der Höhe des Buchenwegs“, sagt Reinders. In jedem Sozialraum arbeite seit Januar ein kollegiales Team aus Jugendamts-Fachleuten und den Mitarbeitern von freien Trägern in der Jugendhilfe.
Gemeinsam mit den Betroffenen werde nach optimalen Lösungen für die Probleme gesucht. Dabei dürfen es gerne Lösungen abseits der klassischenWege sein. „Dort, wo familiäre Strukturen nicht oder nicht ausreichend greifen, kommen Netzwerke im sozialen Umfeld ins Spiel“, sagt Reinders. Ein Beispiel: Wenn alleinerziehende Mütter in einem Quartier Betreuungsprobleme mit ihrem Nachwuchs haben, werden sie dabei unterstützt, die Betreuung der Kleinen im privaten Wohnumfeld selbst zu organisieren.
Das birgt viele Chancen, aber auch Risiken für die Kinder. Zwar bleiben die Kinder in ihrem gewohnten Umfeld und sind mit ihnen bekannten Menschen umgeben. Ob sich die Betreuung aber an nötige Qualitätsstandards hält oder nicht, lässt sich schwerer sicherstellen. „Wir haben es in den Sozialräumen mit einem erheblichen Spannungsbogen bei den Problemlagen zu tun“, sagt die Sozialdezernentin. „Das reicht vom simplen Betreuungsengpass bis in den Bereich der Kindswohlgefährdung.“ Natürlich bedeute die Sozialraumorientierung nicht, dass die professionelle Fürsorge ausbleibe. Wenn Gefahr im Verzug ist, kommt man mit Nachbarschaftshilfe nicht weiter. Dann wird sofort gehandelt und mit klarer Sprache gegenüber den Sorgeberechtigten agiert“, sagt Reinders.
Doch auch wenn es zum Äußersten kommt, der Inobhutnahme eines Kindes durch das Jugendamt, dann bleibt die Sozialraumorientierung Thema. Möglich gemacht haben das drei freie Träger. Die Iuvo, eine Tochtergesellschaft der Gruppe Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie, das Kinder- und Jugendhaus St. Josef der katholischen Kirche in Bad Oldesloe und die Kaltenkirchener Wiegmann-Hilfen bauen gemeinsam für 1,5 Millionen Euro auf einem 1000 Quadratmeter großen Grundstück an der Lawaetzstraße im Frederikspark ein Wohnhaus für Kinder in Not. Bislang mussten solche Kinder in Unterkünfte fern von Norderstedt untergebracht werden. Wenn sie künftig aus ihren Familien gerissen werden, bleiben ihnen wenigstens der Schulalltag und die Freunde erhalten.
Die ersten Erfahrungen des Jugendamtes nach der Einführung des Sozialraum-Prinzips seien positiv, sagt Reinders. Die Mittel des Jugendamtes können zielgerichteter und effizienter eingesetzt werden. 2013 hat das Jugendamt 120 pädagogische Familienhilfen bewilligt und 50 Kinder in Obhut genommen. Es ist zu erwarten, dass sich diese Zahlen nach unten entwickeln werden. Wenn der „Bürger-Profi-Mix“ in der Jugendarbeit funktioniert, dann spart die öffentliche Hand auch Geld. „Die Ehrenamtlichen sollen aber nicht vordergründig aus finanziellen Gründen Aufgaben übernehmen“, sagt Reinders. Bestimmte Aufgaben und die Verantwortung blieben bei den Fachleuten.