Kreis Segeberg. Betroffene aus dem Kreis Segeberg sprechen über Spätfolgen der Corona-Infektion. Sie fühlen sich schlecht behandelt. Was nötig ist.
Sie klönen, lachen, schenken sich Kaffee ein – und genießen den Moment, in dem Körper und Kopf funktionieren. Das ist selten geworden, Long Covid hat die Vier aus dem normalen Leben gerissen. „Von jetzt auf gleich ging nichts mehr, ich kam kaum noch die Treppe hoch“, sagt Christian Dammeyer, der die Segeberger Selbsthilfegruppe Post Covid leitet – das ist der korrekte Begriff, wenn die Krankheit zwölf Wochen und länger dauert. Vorher sprechen die Fachleute von Long Covid.
Mit ihm berichten drei Mitglieder der Gruppe, wie die Viren Muskeln, Kreislauf und Gehirn schwächen und zwar so, dass an den Job nicht zu denken ist, die Hände das Telefon nicht greifen können, nur noch die Flucht ins Bett bleibt. „Rollos runter und Decke übern Kopf“, wie Silvia Henschel sagt. Extreme Erschöpfung, Schmerzen, Atemnot, Konzentrationsschwäche, Sprachstörungen – all das sind Symptome von Post Covid. ME, CFS Myalgische Enzephalomyelitis, Chronisches Fatigue-Syndrom lauten die Fachbegriffe dafür.
„Von 100 auf 0 – Post Covid reißt dich mitten aus dem Leben“
Kaum zu glauben, dass die Vier bei unserem Gespräch munter und gesund wirken. „Das ist ja das Gemeine. Man sieht Post Covid nicht“, sagt Dammeyer. Dafür ist die Krankheit zu spüren. „Ich kam überhaupt nicht mehr auf die Füße“, sagt Gabi Grebe. Sie war dreimal geimpft, als sie sich im Januar 2023 infizierte. Sie fühlte sich schlapp, die Muskeln schmerzten, der Kopf war „matschig“, das rechte Innenohr zerstört, auch dann noch, als die übliche Krankheitszeit von rund 14 Tagen lange vorbei war
Die 56-Jährige schaffte es gerade noch, zu frühstücken und musste dann sofort aufs Sofa. Ihr erging es wie vielen Betroffenen: Der Hausarzt hielt sie schlicht für noch krank und erschöpft nach der Infektion mit der Omikron-Variante des Corona-Virus. „Das wird schon wieder“, lautete sein Kommentar. Doch nichts „wurde wieder“. Die Verwaltungsangestellte, die in Heidmühlen wohnt und in Hamburg arbeitete, wollte sich damit nicht abfinden, beantragte eine Kur. Die Rentenversicherung stellte sich quer, die Betroffene legte Widerspruch ein und durfte zur Reha nach Bad Sülze in Mecklenburg-Vorpommern fahren. Ein halbes Jahr habe sie darum gekämpft.
„Häufig werden wir in die Psycho-Ecke gestellt“
Sie kam in ein Krankenhaus, das sich unter anderem auf die Fachgebiete Neurologie und Kardiologie spezialisiert hat. „Erst dort haben die Ärzte festgestellt, dass ich Post Covid habe“, sagt Gabi Grebe. „Häufig werden wir in die Psycho-Ecke gestellt“, hat Dammeyer festgestellt. Die Symptome würden als typische Anzeichen für Burn-out oder eine Depression gedeutet.
„Die Diagnostik ist ein Hauptproblem, weil die Symptome so komplex sind. Viele Ärzte sind nicht auf dem aktuellen Stand, haben keine Zeit, sich umfassend zu informieren“, sagt Barbara von Eltz, Sprecherin von „NichtGenesen“ in Scheswig-Holstein – ein bundesweiter Zusammenschluss von Menschen, die an Post Covid erkrankt sind.
Die Hausärzte werden nicht angemessen bezahlt
„Wir wollen den Betroffenen und denen, die nach einer Impfung erkranken, ein Gesicht geben, denn häufig verschwinden sie durch die Erkrankung aus dem öffentlichen Leben und werden unsichtbar“, sagt von Eltz, die selbst an Post Covid leidet. Hinzu komme, dass Hausärzte nicht angemessen vergütet werden, wenn sie, wie bei Post Covid, aufwendige und zeitintensive Diagnosen stellen müssten.
Inzwischen ließen sich die Spätfolgen einer Corona-Erkankung durch einen Bluttest feststellen. Dort hätten Forscher Biomarker gefunden, die auf Post Covid hinweisen. „Die unterschiedlichen Erscheinungsformen brauchen eine speziell auf sie abgestimmte Therapie“, sagt die Sprecherin von „NichtGenesen“. Ruhe sei gut, „Pacing“ auch, beides reiche aber meist nicht. Entzündungen in den Gefäßen oder im Gehirn müssten medikamentös behandelt werden.
Post Covid: „Ich habe die Hoffnung aufgegeben, dass ich wieder der Alte werde“
Beim „Pacing“ lernen die Patienten, ihre Kräfte so zu dosieren, dass sie Körper und Geist möglichst nicht überfordern und dann zusammenbrechen. „Man muss lernen, dass nur 20 Prozent der normalen Leistung möglich sind“, sagt die Verwaltungsangestellte Gabi Grebe aus Heidmühlen. Nicht leicht für jemanden, der es gewohnt war, 100 Prozent zu geben.
„Ich habe die Hoffnung aufgegeben, dass ich wieder der Alte werde“, sagt Alexander Mock. Wer den 52-Jährigen in einer Post-Covid-Pause erlebt, kann kaum glauben, was dem kräftigen Mann mit dem Biker-Image widerfahren ist. Als Notfallsanitäter hat er sein Geld verdient, ehe ihn die Corona-Viren aus dem Verkehr gezogen haben.
Täglich zwei Stunden Arbeit in der Verwaltung waren zu viel
An den Job war nicht mehr zu denken, auch die Alternative, täglich zwei Stunden in der Verwaltung zu arbeiten, musste er aufgeben. Nun bezieht er Arbeitslosengeld, hat einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente gestellt: „Es gab ein Leben vor und nach Corona.“
„Es ist für mich unverständlich, wie das Gesundheitssystem mit Mehrfacherkrankten umgeht“, sagt Sylvia Hentschel. Sie könne keine Long-Covid-Reha in der Klinik machen, weil sie wegen Vorerkrankungen auf Lymphdrainage angewiesen sei. Diese Behandlung sei aber im Krankenhaus nicht möglich und werde von der Deutschen Rentenversicherung (DRV) nicht bezahlt.
Deutsche Rentenversicherung stellt sich quer
Die Lunge der 46-Jährigen funktioniere nur noch zu 52 Prozent, viele Freunde hätten sich abgewendet, „weil ich nicht mehr belastbar bin“. Die Wahlstederin kritisiert die Rentenversicherung massiv, sie habe 2014 eine Rente wegen Erwerbsminderung beantragt, erst 2023, neun Jahre später, sei sie genehmigt worden.
Auch Christian Dammeyer liegt im Streit mit der DRV. Der 45 Jahre alte Entwicklungsingenieur leidet sei gut zwei Jahren unter den Spätfolgen seiner Corona-Erkrankung, die milde verlaufen sei. „Zuerst habe ich in Wochen gerechnet, bis ich wieder gesund bin, dann in Monaten, jetzt habe ich jede Zeitrechnung aufgegeben“, sagt der Familienvater. Mehr als 1,5 Kilometer Fußweg seien nicht drin, sein linker Arm arbeite nur zu 25 Prozent, wenn sich mehr als zwei Menschen unterhalten, komme bei ihm nur Kauderwelsch an.
„Es fehlt das Wissen über die Spätfolgen der Corona-Infektion“
Die Deutsche Rentenversicherung habe eine Reha erst bewilligt, nachdem seine Anwältin Druck gemacht habe. Und auch mit einer Erwerbsminderungsrente sehe es schlecht aus. „Die Gutachterin stellt sich quer und mich in die Psycho-Ecke. Meine gesundheitlichen Probleme seien psychosomatisch, zwei, drei Jahre Ruhe, dann werde schon wieder alles gut sein“, sagt Dammeyer.
Damit spricht der Betroffene ein Problem an, das „NichtGenesen“ für zentral hält: „Es fehlt das Wissen, und zwar in vielen Bereichen, bei Ärzten, Pflegenden, bei Behörden und Leistungsträgern wie der DRV und in der Gesellschaft allgemein“, sagt Sprecherin Barbara von Eltz. Dabei gebe es inzwischen viele Studien, die eindeutig belegten, dass es sich bei Post Covid weder um eine Lungenkrankheit noch um eine psychische Störung handelt.
Post Covid: Betroffene haben finanzielle Zukunftsängste
Es gebe keine zugelassenen Arzneimittel, kaum Behandlungszentren. In ihrer Not setzten Betroffene auf Kältekammern oder Blutwäsche und zahlten dafür nicht selten vier- oder sogar fünfstellige Summen – aus eigener Tasche, denn die Kassen kommen dafür meist nicht auf.
Das Quartett aus dem Kreis Segeberg hat andere Hilfe gefunden: „Ich mache zweimal pro Woche Reha-Sport in der Gruppe. Wir trainieren beispielsweise das Gleichgewicht. Hinzu kommt einmal in der Woche das Hirnleistungs- und Gedächtnistraining“, sagt Gabi Grebe, die neben der Sorge um ihre Gesundheit auch finanzielle Zukunftsängste plagen. „Wir haben als Fachkräfte alle gut verdient und sollen dann vom Bürgergeld leben, wenn es kein Arbeitslosengeld mehr gibt.“
Nötig sind mehr Geld für die Forschung und zentrale Anlaufstellen
„Wir brauchen mehr Geld für die Forschung, und wir brauchen zentrale Anlaufstellen, die Post Covid diagnostizieren können“, sagt von Eltz. Wer betroffen ist, bekomme einen entsprechenden Nachweis, den dann auch die DRV, der Arbeitgeber oder die Arbeitsagentur akzeptieren müssten.
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„Damit würde das oft mühselige Ausfüllen von Anträgen und das Begutachten durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen für eine Pflegestufe entfallen“, sagt die Sprecherin der Betroffenen, die davon ausgeht, dass diesen Leistungen vorenthalten werden, weil man ihnen ihre Beschwerden nicht glaube.
„Von 100 auf 0 – Post Covid reißt dich mitten aus dem Leben“
„NichtGenesen“ formuliert seine Forderungen auch gegenüber den Politikern und hat schon mehrfach mit Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) darüber diskutiert. Auch Aktivitäten wie die Rollstuhl-Aktion vor dem Berliner Reichstag sollen Aufmerksamkeit bringen und die Verantwortlichen zum Handeln zwingen.
Fundierte Informationen zu Long und Post Covid bietet die internationale Online-Konferenz „Unite to fight 2024“ mit praktizierenden Ärzten und renommierten Vertretern aus der Forschung am 15. und 16. Mai. Unter dem Motto „geteiltes Leid ist halbes Leid“ trifft sich der von Christian Dammeyer geleitete Gesprächskreis Post Covid jeden ersten Freitag im Monat um 18 Uhr bei der Kontaktstelle für Selbsthilfegruppen, Kurhausstraße 2, 1. Stock. Infos und Anmeldung unter 04551/3005 oder kis-segeberg@awo-sh.de.
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