Norderstedt. Alt-Bundespräsident Joachim Gauck kam erstmals nach Norderstedt. Er sprach im Kulturwerk am See über die Bedrohung der Demokratie.
Er fängt den Saal schon mit den ersten Sätzen ein. Begrüßt von Moderatorin Hannah Böhme (NDR), betritt Joachim Gauck die Bühne im Kulturwerk am See in Norderstedt. Der frühere Bundespräsident (von 2012 bis 2017) ist erstmals in der Stadt. Das Amt für Bildung und Kultur hatte es geschafft, ihn zu engagieren, die Veranstaltung war schnell ausverkauft. Und in den nächsten 90 Minuten wird klar, warum so viele Menschen den 84-Jährigen als eine Instanz ansehen, die es versteht, komplexe weltpolitische Zusammenhänge deutlich und verständlich einzuordnen.
„Erschütterungen: Was unsere Demokratie von außen und innen bedroht“, dieses 2023 veröffentliche Buch hat Gauck zusammen mit Helga Hirsch geschrieben. Doch der Abend ist viel mehr als eine Lesung, nämlich ein hochaktueller Einblick in den Zustand der deutschen Gesellschaft, über erstarkenden Extremismus – und den richtigen Umgang mit Russland und Wladimir Putin.
Joachim Gauck: „Was Dohnanyi über Russland erzählt, ist peinlich“
Einen Tag, bevor der Machthaber in Moskau für seine fünfte Amtszeit vereidigt wird, beschreibt Gauck in aller Deutlichkeit: „Eine eigene Tradition gegen Europa zu setzen, das hat er nötig, um seine Herrschaft zu schützen.“ Im Wirken Putins, darin, wie die Bevölkerung kontrolliert wird, sieht er Muster aus der Sowjetunion. „Die Kommunisten hatten eine Welterlösungsideologie.“ Jetzt ist es etwas anderes, er nennt es „eine Ideologie des großen, heiligen Russlands“.
Aus Sicht des Kremls habe dieses keine „definierten Grenzen“. Mit den bekannten Folgen insbesondere für die Ukraine. Dass dort die Menschen einst auf dem Maidan für eine Annäherung an Europa kämpften, sei nicht von den USA gesteuert gewesen, wie es Russland weiterhin behauptet. Denn: „Man braucht keine Amerikaner, um Freiheit zu lieben, wenn man in der Unterdrückung lebt“ – spontan applaudiert das Kulturwerk.
Bissig sagt er, gerichtet an den früheren Hamburger Bürgermeister und heutigen Abendblatt-Kolumnisten Klaus von Dohnanyi: „Was er über Russland erzählt, ist peinlich.“ Dessen Ansicht, die NATO treibe Russland in die Enge, hält er für komplett falsch.
Ukraine: „Einem überfallenen Opfer zu helfen, ist eine moralische Pflicht“
Manchmal ist es eine Geschichtsstunde, die ein wenig Vorwissen erfordert. Gauck spricht über die NATO-Russland-Grundakte von 1997, jenen völkerrechtlichen Vertrag über die Osterweiterung des transatlantischen Bündnisses. „Noch 2004 hat Putin die Ansicht vertreten, dass die NATO und Russland gut miteinander auskommen.“ Und heute: Es sei Kern der „Propaganda dieser nicht legitimierten Herrschaft, dass man sich in einem Bedrohungsszenario befinde“. Das „gemeinsame Haus Europa“, erdacht von Michail Gorbatschow, das gibt es heute nicht mehr.
Die Konsequenz: Die Ukraine brauche die Waffen und Munition. Hier bezieht Gauck klar Position. „Einem überfallenen Opfer zu helfen, ist eine moralische Pflicht.“ Das sagt er bewusst als evangelischer Christ, wohlwissend, dass es in der Kirche auch andere Positionen gibt.
„Warum bringt der Pazifismus nichts? Weil du ein Gegenüber hast, der deine Wertevorstellungen nicht teilt.“ Und: „Wenn man einem Aggressor nicht Grenzen setzt, regt man seine Aggressivität nur an. Ich hätte mir gewünscht, dass ich Unrecht habe, aber leider habe ich Recht bekommen. Man darf aus politischen Wünschen keine friedfertige Blindheit machen. Wir ziehen rote Linien, ohne dass Putin sie zieht. Das ist bedenklich.“
Sind alle AfD-Wähler Nazis? Warum Gauck das anders sieht
Gauck ist in Rostock geboren, lebte in der DDR, erlebte Montagsdemos und Mauerfall, war dann Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen. Diese Erfahrungen schwingen auch hier in Norderstedt mit. Hannah Böhme fragt ihn: Warum schaffen es gerade Parteien wie die AfD, den Menschen ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln?
Zukunftsangebote hätten diese Parteien nicht, betont er. „Das führt mich zum Kernbereich der Bedrohung von innen. Ich bin im Krieg geboren, finde Nationalismus schrecklich.“ Aber was sei los mit jenen, die Rechtsextreme wählen, sind das alles Nazis? „Das kann sagen, wenn man wütend ist, es stimmt aber nicht.“
Joachim Gauck führt etwas aus, zitiert Studien, wonach sich ein Drittel der Bevölkerung in vielen europäischen Staaten zu autoritären Positionen hingezogen fühle. Eigentlich hätten früher konservative Menschen diese Leute erreicht, doch das habe sich verändert im Zuge der „Mehrfachkrisen“, in denen sich Menschen fremd fühlten in ihrer Welt. Sie sehnen sich, so Gauck, nach einem Gefühl, „wo wir uns sicher fühlen im Vertrauten“. Globalisierung, Entgrenzung, unüberschaubare Entwicklungen – „es sind mit Moderne immer auch Ängste verbunden“.
Wenn Regierung nicht handlungsfähig erscheint, „geht der Weg nach Rechtsaußen“
Er denkt nicht, dass diejenigen Menschen, die zum Beispiel die AfD wählen, einen neuen Adolf Hitler wollen, das sei vielleicht ein Prozent. Aber Gauck sorgt sich, „dass wir viele kleine Orbans bekommen“. Die rechten Ostdeutschen, die aufgeklärten Westdeutschen, dieses Gegenüberstellen macht er allerdings nicht mit. „Der eine Teil konnte sieben Jahrzehnte Demokratie lernen, der andere nur drei.“ Nachholbedarf habe der Osten jedoch darin, die Zivilgesellschaft zu stärken.
Was Gauck zum Thema Migration sagt
Aber er will auf etwas anderes hinaus. In Schweden zum Beispiel, da seien die rechtspopulistischen „Schwedendemokraten“ mittlerweile zweitstärkste Kraft, die Regierung ist auf ihre Unterstützung angewiesen. Wie kann so etwas in einem Land passieren, das viele ja als Vorbild sehen?
Es ist das „Migrationsproblem“, so Gauck. „Wenn die Regierung den Eindruck erweckt, dass sie nicht oder nicht ausreichend handlungsfähig ist, geht der Weg nach Rechtsaußen.“ Auch eine liberale Gesellschaft brauche Führung, und zwar, dass die „Menschen, die man gewählt hat, Probleme steuern und verstanden haben“.
„Wieso willst du in Deutschland leben, willst aber das Kalifat?“
Nicht, dass er falsch verstanden wird: „Ohne Zuwanderung würde unser Land zusammenbrechen.“ Nur: „Du kannst es besser akzeptieren, wenn du Schritt für Schritt gelernt hast, dass dich Veränderung nicht überfordert.“ Was er nicht hinnehmen will, sind antidemokratische Einstellungen von Menschen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland leben. „Wieso willst du in Deutschland leben, hier deine Kinder groß werden lassen, wählst aber Erdogan oder willst das Kalifat?“
Auch die Russlanddeutschen, die sich zu Putin bekennen, bezieht er mit ein. „Was auf dem Boden des Grundgesetzes gewachsen ist, muss man akzeptieren. Ansonsten muss man lernen, sich abzugrenzen.“ Da müsse eine Bundesregierung auch transparent sein, ebenso im Zusammenhang mit eingeschränkten Möglichkeiten, etwa für Abschiebungen. „Wenn man nichts sagt, wächst Misstrauen. Und dann kommen Aggressivität und Vertrauensverlust.“
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Und wenn es nicht besser wird? Das lässt er aus, spricht aber einen Widerspruch an, den es so wohl nur hier gibt, und der historisch bedingt ist. „Wir haben ein Deutschland, dass es in der Qualität noch nie gab“, das ist seine feste Überzeugung. Anderswo würden sich die Menschen darüber freuen. Aber in uns, den Deutschen, sei ein Gefühl, „man wäre ein schlechter Deutscher, wenn man sich freut“. Wie er das meint? „Wenn man sich nur die Sünden der Vorfahren vorhält, aber nicht das, was danach geschaffen wurde – wir haben zu wenig Bürgersinn in uns.“
Joachim Gauck in Norderstedt: Autogramme und Fotos zum Abschluss
Nach stehenden Ovationen schließt Joachim Gauck mit einer persönlichen Note. „Es war der 18. März 1990, für den Osten ein bedeutender Tag, die ersten freien Wahlen nach der friedlichen Revolution.“ Auch für ihn selbst. In der Wahlkabine spürte er die Veränderung. Früher, in der DDR, galt noch: „Falten und reinwerfen.“ Und nun? „Ich hatte einen Zettel, auf dem etwas steht, und einen Stift.“ Und damit eine tatsächliche Wahl. Als er das Wahllokal verließ, seien ihm Tränen gekommen. „Ich musste 50 Jahre alt werden dafür. Seit diesem Moment auf der Treppe weiß ich: Ich werde nie eine Wahl versäumen.“
Die unterhaltsame Veranstaltung stimmt nachdenklich. Und Joachim Gauck gibt sich im Anschluss so, wie er auch als Bundespräsident war: volksnah. Viele der Besucherinnen und Besucher stellen sich im Foyer geduldig an, lassen Bücher signieren, oder bitten den prominenten Gast um ein gemeinsames Foto. Auch deswegen wird der Abend mit Sicherheit in Erinnerung bleiben.