Norderstedt. Das Recherchenetzwerk Correctiv wirft bundesweit Gasversorgern vor, ihre Kunden zu täuschen. Was hinter den Anschuldigungen steckt.
„Mit Ökogas das Klima schützen“, „Umweltschonend heizen und kochen“, „100 % klimaneutral in die grüne Zukunft“: Mit derartigen Versprechen werben viele deutsche Gasversorger für ihr angeblich „klimaneutrales“ Erdgas. Kunden müssten nur ein paar Cent pro Kilowattstunde mehr bezahlen, um mit gutem Gewissen die Heizung aufdrehen zu können und trotz mollig-warmer Wohnung das Klima zu retten. Das zumindest suggeriert die Werbung.
Hinter dem Werbeversprechen steckt aber meist kein umweltfreundliches Gas, das Haushalte beziehen können. Um mit dem verkaufsfördernden Label „klimaneutral“ werben zu können, investieren die Anbieter stattdessen Geld in anderweitige Klimaschutzprojekte. Sie unterstützen den Erhalt von Wäldern in Brasilien oder den Bau von Wasserkraftwerken in Indien. Auf diese Weise wollen sie die in Deutschland entstandenen CO₂-Emissionen ausgleichen. Als Wiedergutmachung sozusagen. Dafür erhalten die Gasanbieter im Gegenzug Kompensationszertifikate – mit denen sie wiederum Kundinnen und Kunden anwerben können.
Vorwurf: Stadtwerke Norderstedt fördern ein klimaschädliches Projekt in Indien
Dass diese aber massiv getäuscht werden, behauptet nun das Recherchenetzwerk Correctiv in seiner jüngst veröffentlichten Recherche. Der Zertifikate-Handel sei eine riesengroße „Ökogas-Lüge“, wie der Titel der Geschichte lautet. Das habe eine Auswertung von 150 deutschen Gasversorgern und kommunalen Stadtwerken für den Zeitraum von 2011 bis 2024 ergeben. Demnach hätten 116 Gasversorger in den vergangenen 13 Jahren CO₂-Gutschriften aus Klimaschutzprojekten genutzt, die laut wissenschaftlicher Einschätzung aber gar nicht plausibel nachweisen können, dass Emissionen tatsächlich reduziert oder eingespart wurden.
Auch die Stadtwerke Norderstedt sind in dem Artikel aufgeführt. Laut Recherchen von Correctiv hat das städtische Unternehmen aus Schleswig-Holstein CO₂-Gutschriften für die Förderung eines Kraftwerks im indischen Jegurupadu erhalten. Ein Experte schätzt die Kompensation allerdings nicht als geeignet ein. Stattdessen würden die Stadtwerke ein fossiles Projekt fördern, das das Klima über Jahrzehnte mit Emissionen belastet, so Correctiv. Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte das Unternehmen also nicht, wie gedacht und dem Kunden übermittelt, 77,359 Tonnen CO₂ eingespart.
Stadtwerke Norderstedt weisen Täuschung entschieden zurück
Stadtwerke-Sprecher Oliver Weiß steht den Correctiv-Recherchen entspannt gegenüber, wie er sagt. „Wir begrüßen die kritischen Recherchen von Correctiv und die damit verbundene Stärkung der Bedeutung des Klimaschutzes“, sagt er. Den Begriff der Lüge zur bewussten Täuschung der Verbraucherinnen und Verbraucher weist er aber entschieden zurück. „Das wird unserem Engagement einer nachhaltigen Unternehmensführung in keiner Weise gerecht.“
Zwar habe man in der Vergangenheit CO₂-Zertifikate gekauft – zuletzt aber 2021, also vor drei Jahren. Wie andere Gasversorger, haben auch die Stadtwerke damals mit Kompensationszertifikaten geworben, die vom TÜV Rheinland geprüft worden waren. „Das haben wir mit bestem Gewissen gemacht“, betont Weiß. „Zu keinem Zeitpunkt seiner damaligen Verwendung gab es Gründe, an dessen Eignung zu zweifeln.“
Stadtwerke: Externer Experte wählte damals das Projekt in Indien aus
Im Jahr 2012 haben sich die Stadtwerke Norderstedt intensiv mit der Frage beschäftigt, wie groß eigentlich ihr ökologischer Fußabdruck sei, den sie hinterließen, berichtet Weiß weiter. „Wir haben nach Lösungen gesucht, unsere CO₂-Emissionen zu kompensieren“, erklärt der Stadtwerkesprecher. Und die Lösung seien damals eben CO₂-Zertifikate gewesen. Dazu habe man einen Dienstleister beauftragt, der sich auf diesem Fachgebiet gut auskenne. „Die Auswahl des Projektes haben nicht wir getroffen, sondern ein Experte, der uns die entsprechenden Nachweise geliefert hat“, so Weiß.
Das von Correctiv kritisierte Projekt in Indien beschränkt sich laut Stadtwerke lediglich auf das Jahr 2021. Davor habe man acht Jahre lang in andere Zertifikate investiert, auf die das Rechercheteam aber nicht näher eingeht. Ob diese Klimaschutzprojekte nicht untersucht worden sind oder durch sie tatsächlich CO₂-Emissionen reduziert werden konnten, geht nicht aus dem Bericht hervor.
Stadtwerke setzen auf andere Strategien für Klimaneutralität
Knapp drei Jahre nach Ende der Investitionen in das indische Kraftwerk nun zu hören, dass die Zertifikate mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zur Kompensation geeignet waren, sei „nicht schön, wenn es tatsächlich stimmt“, sagt Oliver Weiß. Inzwischen setzen die Stadtwerke längst auf andere Strategien, um einen aktiven Beitrag zu dem Ziel der Stadt zu leisten, bis 2040 klimaneutral zu sein. „Dazu haben wir in den letzten gut zehn Jahren eine Unternehmensstrategie entwickelt, die darauf ausgerichtet ist, die Stadt Norderstedt mit eigenen, lokalen Projekten bis 2040 klimaneutral zu versorgen“, so die Stadtwerke.
Im Fokus der lokalen Energiestrategie stehen zum Beispiel die Dekarbonisierung der Fernwärmeversorgung durch Solarthermie, eine PV-Strategie zur Eigenstromerzeugung sowie eine Ausbaustrategie der Ladeinfrastruktur zur Förderung der Elektromobilität. Erneut Zertifikate zur Kompensation einzusetzen, sei künftig „nicht geplant“.
Correctiv: 10 Millionen Tonnen CO₂ nicht wie versprochen eingespart
Grundlage für die Auswertung von Correctiv sind die Register von Verra und Gold Standard, die größten Zertifizierer für freiwillige CO₂-Kompensationen. Die Nichtregierungsorganisationen setzen weltweit Standards für die Qualität von Klimaschutzprojekten und deren CO₂-Gutschriften. Sie fungieren als Kontrollinstanz und sollen garantieren, dass Emissionen tatsächlich eingespart werden. Doch gerade Verra steht bereits seit einiger Zeit massiv in der Kritik.
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Laut Correctiv schützen viele Projekte weniger Wald oder sparen weniger CO₂ ein als angegeben. Von den insgesamt 16 Millionen ausgewerteten Gutschriften seien zwei Drittel unplausibel, wie die Recherchen mithilfe von Wissenschaftlern und Experten ergeben haben. Correctiv kommt zu dem Ergebnis, dass rund zehn Millionen Tonnen klimaschädliches CO₂ in den vergangenen 13 Jahren mit sehr großer Wahrscheinlichkeit nicht eingespart oder reduziert wurden – anders als von den Zertifizierern und Gasversorgern versprochen.