Norderstedt. Gewalt gegen Frauen ist trauriger Alltag. Doch in Norderstedt und der Region können sie lernen, sich bei Angriffen zu behaupten.
Überfälle, Körperverletzungen, Raub: Die Liste der Straftaten an den U-Bahnhöfen Norderstedt-Mitte und Garstedt ist lang. Deshalb führt das Polizeirevier Norderstedt verstärkte Kontrollen rund um die beiden Haltestellen noch mindestens bis 31. März 2024 durch, so die Pressestelle der Polizeidirektion Bad Segeberg.
Trotz allem: Mein mulmiges Gefühl bleibt, wenn ich als Frau spätabends auf dem Rückweg vom Theater oder Ballett die U-Bahnstation verlasse – egal ob im Winter oder auch in den kommenden wärmeren Monaten, wenn sich das Leben wieder mehr draußen abspielt.
Und so habe ich mich entschieden, Prävention, Selbstbehauptung und Selbstverteidigung zu erlernen. Um meine Handlungsfähigkeit in einer realen Gefahrensituation, die hoffentlich nie eintritt, zu verbessern und mich einfach sicherer zu fühlen. Deshalb bin ich mit sieben weiteren Frauen hier. In einer Sporthalle im Hamburger Norden. Zum Schnupperkurs „FrauenselbstSicherheit“ der Ju-Jutsu-Trainerinnen Fatma Keckstein (59) und Jessica Diekmann (25).
Ricarda wollte helfen und wurde brutal zusammengeschlagen
Ju-Jutsu, so sei kurz erwähnt, verbindet Elemente aus dem Judo, Karate und Aikido und ist betont defensiv geprägt. Mit Fatma und Jessica stehen vor uns zwei echte Profis auf der Matte. Fatma, Bundesfrauenreferentin und Direktorin Sportentwicklung im Deutschen Ju-Jutsu Verband, hat bisher rund 2000 Frauen in Selbstverteidigung trainiert. Seit vielen Jahren arbeitet sie mit der Gleichstellungsbeauftragten der Stadt Norderstedt zusammen.
Auch Ricarda (Name geändert) ist dabei. Vor zwei Jahren wurde die Ärztin brutal zusammengeschlagen. Von zwei Männern, die zuvor betrunken aufeinander eingeprügelt hatten. Blutend landeten sie bei Ricarda in der Notaufnahme. Als die 34-Jährige die Narbe des einen nähen wollte, schlug der ihr mitten ins Gesicht, bis Ricarda zu Boden stürzte. Das Trauma sitzt immer noch tief.
Jede dritte Frau erlebt mindestens einmal im Leben Gewalt
Gewalt gegen Frauen ist hierzulande keine Seltenheit und nach wie vor Alltag. Laut Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben hat in Deutschland bereits jede dritte Frau mindestens einmal im Leben Gewalt erlebt. Trainerin Fatma, seit 30 Jahren als Ju-Jutsuka auf der Matte, weiß, wie sich Angst und Hilflosigkeit anfühlen. In ihrer Kinder- und Jugendzeit hat sie selbst Gewalt erlebt. „Wenn das Ganze einen Sinn hatte, dann den, dass ich früh wusste, ich möchte Frauen und Mädchen helfen, aus solchen Situationen selbstständig herauskommen zu können“, sagt sie.
Und präsentiert uns Chris. Ein Bild von einem Mann. Aus Pappe und in provozierender Pose. Fatma fragt: „Was kann ich tun, wenn ein Typ mich packt, schlägt, vergewaltigen will und ich nicht mehr die Möglichkeit habe zu flüchten?“ Als Antwort darauf lässt sie uns Punkte kleben. Überall dort, wo es Chris & Co. in der Realität so richtig wehtun könnte. Sprich, wo wir ihm Schmerzen zufügen und einen Moment außer Gefecht setzen könnten. Und so doch noch die Chance haben, uns aus seinem Griff zu befreien und das Weite zu suchen. Ob Gesicht oder Genitalbereich, Schienbein oder Solarplexus, Finger oder Ferse, Kinn oder Kehlkopfgrube – Schmerzpunkte gibt‘s ganz schön viele…
Flucht ist immer die beste Option
Doch: Einem Menschen auf die Nase zu hauen oder in die Augen zu stechen, ist brutal und kann bleibende Schäden hinterlassen. Darf ich mich so drastisch wehren? „Jawohl“, sagt Fatma. „Die Ausgangslage für die Selbstverteidigung ist, dass ein Angreifer DIR bleibende Schäden zufügen will oder sie zumindest billigend in Kauf nimmt. Flucht ist immer die beste Option. Darum kommt die Gegenwehr erst in Betracht, wenn du nicht weglaufen kannst.“
Und genau hier greift § 32 Strafgesetzbuch, der besagt: „Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig. Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden“. Nicht vergessen: Hinterher auf jeden Fall umgehend die Polizei informieren und einen Anwalt einbeziehen!
Damit es gar nicht erst dazu kommt, ist es wichtig, schon präventiv sein Gefahrenbewusstsein zu schärfen. Will heißen: Nicht verträumt mit dem Handy in der Hand durch die Gegend zu schlendern, sondern aufmerksam zu sein, alarmierende Vorzeichen rechtzeitig zu erkennen und der heiklen Situation sofort aus dem Wege zu gehen.
Wichtig: Selbstbehauptung mit Körper und Stimme sowie frühes Grenzen setzen
Ist das nicht mehr möglich, hilft es, eine entschlossener Körpersprache zu zeigen und mit fester, tiefer und lauter Stimme zu sprechen: „Gehen Sie zur Seite!“ statt: „Warum lassen Sie mich nicht durch?“ oder „Fassen Sie mich nicht an!“ statt: „Können Sie mich nicht in Ruhe lassen?“ Selbstbehauptung mit Körper und Stimme sowie frühzeitiges Grenzen setzen, sagt Fatma, kann die Absicht zur Tatausführung beenden.
Nach der Theorie geht es ab auf die Matte. In Zweierteams üben wir Techniken, um uns im Ernstfall gegen körperliche Angriffe zur Wehr zu setzen. Wir machen uns groß, sprechen laut und nachdrücklich mit unserem Angreifer. Üben dann mit Softstick, Schutzpolster für den Genitalbereich und Handpratze (in Form eines menschlichen Kopfes) Abwehr und Konter gegen Schläge unseres Gegenübers. Mit meiner „Hammerfaust“ haue ich immer wieder auf die Nase der Pratze mit dem Gummigesicht. Das geht nicht nur in die Arme – ich spüre, wie der Adrenalinpegel in meinem Körper merklich ansteigt.
„Finger weg von Messern oder Schusswaffen für die Selbstverteidigung“
Auch Franziska teilt ordentlich aus. Die Krankenschwester praktiziert Selbstverteidigung seit zehn Jahren, ist heute mal wieder zur Auffrischung hier. Franziska erzählt von einer Situation, die sie im Bus erlebt hat. Ein älterer Mann, scheinbar dement, beschimpfte sie laut und böse. „Die Leute haben nur geguckt“, sagt die 55-Jährige. Keiner habe ihr geholfen. Der Mann sei immer aggressiver geworden, sodass sie beschlossen habe, zu deeskalieren und vorzeitig auszusteigen. Auf dem Weg zur Tür habe er ihr dann noch ein Bein gestellt…
Den Abschluss bildet die Waffenkunde mit Jessica. „Finger weg von Messern oder Schusswaffen für die Selbstverteidigung“, lautet ihre eindeutige Botschaft. „Die unterliegen einerseits vielfach dem Waffengesetz. Und andererseits erzeugen Waffen oft mehr Probleme, als sie lösen.“
Zur Verteidigung bieten sich Alltagsgegenstände wie Schlüssel, Stift, Stock oder Lippenstift an. Also Gegenstände, die stabil und so groß sind, dass sie ein Stück aus der Hammerfaust herausgucken und so den Angreifer verletzen können. Von Pfefferspray, das bei ihm zur Reizung der Augen und Atemwege führen soll, raten die beiden aber ab. Nicht ohne Grund müssen Sicherheitsbeauftragte den Umgang mit diesem Werkzeug regelmäßig trainieren. Darüber hinaus ist es nur erlaubt als Abwehrmittel gegen Tiere.
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Die zwei Schnupperstunden sind rum. Dass ich mich nun sicherer in meiner Haut fühle, dazu haben Fatma und Jessica an diesem Vormittag entscheidend beigetragen. Jetzt heißt es dranbleiben. Regelmäßig üben oder, wie in einem Erste-Hilfe-Kurs, immer wieder auffrischen. In der Hoffnung, dass ich das Erlernte niemals tatsächlich anwenden muss.
Kontakt: Fatma Keckstein, Tel: 040/279 35 5, Mobil: 0172/545 91 73, Mail:fatma@keckstein.net, www.ntsv-jujutsu.de
Selbstverteidigungskurse im Kreis Segeberg
Kodokan e.V., Norderstedt, Tel.: 040/228 539 20, Mail: office@kodokan.de, www.kodokan.info
WHKD Klein Rönnau, Tel.: 04551/87 277, Mail: info@whkd-segeberg.de, www.whkd-segeberg.de
Krav Maga, Ulzburger Str. 567 a, Norderstedt, Tel: 040/943 63 821, Mail: info@kravmaga-hh-sh.de, www.ikmf-hamburg.de
Kung Fu Academy Norderstedt, Ulzburger Str. 97, Tel.: 0151/431 29 491, Mail: sihingolli@gmx.de, www.kungfu-norderstedt.de
Infos zum Thema Opferschutz auf www.polizeiberatung.de
Heimwegtelefon e.V. Das Heimwegtelefon ist ein Service, bei dem Sie nachts anrufen können, wenn Sie sich auf dem Heimweg unwohl fühlen. Sie werden dann von einer ehrenamtlichen Person am Telefon bis nach Hause begleitet. Das Heimwegtelefon bietet telefonische Begleitung für alle, die sich nachts auf dem Nachhauseweg unsicher fühlen. Es gelten die Telefongebühren Ihres Mobilfunkanbieters für einen Anruf in das deutsche Festnetz. Tel.: 030/120 74 182 (deutschlandweit), Sonntag bis Donnerstag von 20 bis 24 Uhr, Freitag und Sonnabend von 20 bis 3 Uhr, www.heimwegtelefon.net