Norderstedt. Unterbesetzung, Stress und Frust: Zwei Landtagsabgeordnete erleben in Norderstedter Kita die Realität der Kinderbetreuung.
Während die Landespolitik gerade in Kiel das Pro und Contra des seit über drei Jahren wirkenden Kita-Reform-Gesetzes diskutiert, spitzt sich die Lage in vielen Kindertagesstätten im ganz Schleswig-Holstein zu. Was das pädagogische Arbeiten unter Fachkräftemangel, Unterbesetzung, Kitaplatz-Knappheit und mit einer gestressten Elternschaft im Nacken bedeutet, das kann man exemplarisch bei den „Kleinen Strolchen“ in Norderstedt erleben.
Die Kita in der Trägerschaft der Arbeiterwohlfahrt an der Waldstraße hat dazu inmitten der politischen Diskussion um das Kita-Gesetz zwei erfahrene Landtagsabgeordnete zum Praxistest eingeladen: Katja Rathje-Hoffmann (CDU) und Ulrike Täck (Bündnis 90/Die Grünen) nahmen die Einladung gerne an und erschienen in der Morgenrunde der „Kleinen Strolche“.
Protestplakate: „Come in and Burnout“
Genauer gesagt in der Morgenrunde der „Ameisengruppe“. Und da bekamen Rathje-Hoffmann und Täck zunächst mit, wie man „Kleinen Strolchen“ die Regeln der Demokratie schon früh beibringt. Denn in der Runde musste entschieden werden, was das Baumaterial der Woche sein soll. Und davor, ob die Katja und die Ulrike überhaupt mit abstimmen dürfen. Es wurde abgestimmt. Sie durften. Und als Baumaterial wurden mehrheitlich die Schwämme ausgesucht.
Schluss mit lustig: Mit Protestplakaten, die von den Mitarbeitenden der Kita an der Info-Magnettafel der Kita aufgehängt worden waren, machten diese klar, dass sie an diesem Tag gerne Tacheles reden und ihrem Ärger über drängende Probleme Luft machen möchten. „Kita: Come in and Burnout“ stand dort zu lesen. Oder: „Keine Betreuung, keine Wirtschaft!“
„Wir bekommen die Stellen nicht besetzt“
Neben den „Kleinen Strolchen“ betreibt die AWO seit letztem Jahr auch die Kita Harkshörn im Norderstedt der Stadt. „Beide Kitas sind voll belegt und unsere Wartelisten sind lang. Nicht mehr jedes Kind bekommt einen Platz“, teilt Einrichtungsleiter Georg Brock über die Situation vor Ort mit. Zudem fehle es an Personal. „Wir bekommen die Stellen einfach nicht mehr besetzt. Wir sind hier vor Ort ein tolles Team, aber die Rahmenbedingungen führen dazu, dass viele aufhören und manche gar nicht erst anfangen“, so Brock weiter.
Leidtragende sind die Mitarbeitenden der Kita, die keine Entlastung bekommen. Und vor allem Kinder und Eltern. Maria Fock ist Elternvertreterin bei den „Kleinen Strolchen“ und kennt die Probleme der Eltern: „Das Team der AWO tut ihr Bestes hier vor Ort, aber sie kommen an Grenzen. Durch das fehlende Personal und die Notbetreuung müssen Eltern immer verkürzt arbeiten oder unbezahlt freinehmen. Sie haben Angst um ihren Job. Es muss sich etwas ändern!“
Ministerin Touré: „Gesetz zu weit weg von der Praxis“
Das sieht die zuständige Sozialministerin Aminata Touré (Bündnis90/Die Grünen) genauso: „Wir haben akuten Handlungsbedarf. Wir brauchen in den Kitas und in der Kindertagespflege dringend mehr Verlässlichkeit, gestärkte Fachkräfte und mehr Flexibilität bei einer weiterhin hohen Qualität in der Betreuung“, sagt sie im Landtag in der Diskussion um das Kita-Reform-Gesetz und den gerade veröffentlichten Evaluationsbericht von Wissenschaftlern, die das Gesetz zweieinhalb Jahre lang in der Praxis unter die Lupe nahmen. „Unser Kita-Gesetz ist in Teilen zu weit weg von der Praxis. Es ist bürokratisch und nicht flexibel genug. Es wird insbesondere nicht den Herausforderungen des Fachkräftemangels gerecht. Das ist nicht nur mit mehr Geld zu heilen.“
Das Kita-Reform-Gesetz sorgte nach dem Inkrafttreten zum 1. Januar 2021 zwar für eine im Vergleich zu 2019 bessere Personalausstattung in den Kitas, für eine spürbare finanzielle Entlastung der Eltern, kürzere Schließzeiten, verbindliche Freistellungsregelungen und höhere Einkommen bei Tagespflegepersonen. Jedoch attestiert der Evaluationsbericht dem System nun etliche Krankheiten.
Finanzierungslücke: Wer soll sie füllen?
Eine Finanzierungslücke zwischen 80 und 130 Millionen Euro klaffe bei den Sachkosten der Kitas. 41 Prozent der Kitas im Land schaffen es nicht, über fünf Tage am Stück den vorgegebenen Personalschlüssel einzuhalten, sie müssen aufgrund von Personalausfall und -mangel kürzer öffnen oder ganz schließen. Und obwohl Tagesmütter nun mehr Geld bekommen als früher, liegt ihr Gehalt immer noch nur auf dem Niveau einer ungelernten Kita-Hilfskraft.
Wie die Finanzierungslücken künftig geschlossen werden sollen, ließ Ministerin Touré offen. Derzeit trägt das Land 43 Prozent der Kosten. Die Kommunen beteiligen sich mit 37 Prozent und 20 Prozent leisten die Eltern mit ihren Beiträgen. Touré wünscht sich die „faire Aufteilung der Finanzierung unter allen Beteiligten“ und schließt damit auch die Erhöhung von Elternbeträgen nicht aus.
Müssen die Eltern bald mehr bezahlen?
Die sind im Kita-Gesetz derzeit auf maximal 230 Euro gedeckelt. Touré wünscht sich in den kommenden Monaten den intensiven Austausch zu den Problemen in der Kinderbetreuung mit allen fachlich und politisch Verantwortlichen. Touré: „Wir wollen das Kita-Gesetz gemeinsam so verbessern, dass es auf der Höhe der Zeit ist und den aktuellen Herausforderungen gerecht wird.“
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In Norderstedt zeigten die AWO-Belegschaft und die Elternvertreter den beiden Landtagsabgeordneten auch die ausgedruckten WhatsApp-Nachrichten der Kollegen und Eltern, um zu verdeutlichten, wie angespannt die Situation ist, mit der die „Kleinen Strolche“ zu kämpfen haben: zu wenig Personal und zu wenig Kitaplätze. Die Kita muss immer wieder kurzfristig schließen und die Eltern stehen unter Druck.
Verlässlichkeit der Kita muss besser werden
„Schon jetzt haben wir hier in Norderstedt den höchsten Personalschlüssel im Land und trotzdem kommt es immer wieder zu eingeschränkten Betreuungszeiten“, sagt der AWO-Vorstandsvorsitzende Michael Selck. „Diese Probleme wurden von der AWO immer wieder benannt und sind nun durch den Evaluationsbericht nicht mehr wegzudiskutieren. Die Landesregierung hat es nun in der Hand, für eine gut ausgestattete Kindertagesbetreuung zu sorgen, damit wir unseren Kindern die besten Entwicklungschancen bieten können.“
„Ich danke dem Team der AWO-Kita Kleine Strolche für die tolle Arbeit und spannende Einblicke“, sagte Ulrike Täck nach dem Besuch. „Welche Bedeutung Kitas für die Demokratiebildung haben, durfte ich heute live erleben. Die Sorgen und Anliegen, die mir dabei berichtet wurden, spiegeln das wider, was auch der Evaluationsbericht zur Kita-Reform beschreibt: Wir müssen bei der Verlässlichkeit unseres Kita-Angebots noch besser werden.“
Rückendeckung der CDU für die Ministerin
Mit der Fachkräfte-Stärken-Strategie arbeite das Sozialministerium bereits daran, mehr Fachkräfte für die Kitas zu gewinnen. „Bei der Überarbeitung des Kita-Gesetzes müssen Land, Kommunen, Elternvertretungen und alle weiteren Beteiligten nun gemeinsam vorangehen und Lösungen finden“, sagte Täck. „In dieser Kita wird gute Arbeit geleistet. Das wichtigste und gemeinsame Ziel aller ist, dass eine qualitativ gute und hochwertige Betreuung stattfinden kann, auf die Verlass ist“, ergänzte Katja Rathje-Hoffmann.
Klar sei, dass ein Kita-System nur funktioniere, wenn sich die Eltern auf die Betreuung ihrer Kinder verlassen könnten. „Um mehr Verlässlichkeit zu schaffen, wollen wir den Kitas mehr Flexibilität geben, sie von unnötiger Bürokratie befreien und den Kita-Trägern mehr Handlungsspielraum und Verantwortung beim Personaleinsatz geben“, sagte Rathje-Hoffmann. „Für diesen Kurs hat die Ministerin unsere vollste Rückendeckung. Gemeinsam wollen wir Optimierungspotenziale durch die Evaluation ausschöpfen und unser Kita-System weiterhin immer besser machen.“