Norderstedt. Annaliza Schuldt und Mirco Güse haben eine geistige Behinderung. Laut Gesetz sind sie nicht ehefähig. Warum sie dennoch heiraten konnten.

Er hat seinen Anzug angezogen, den Guten, den er bei der Hochzeit getragen hat. Bei seiner Hochzeit. Sonntags holt er den Anzug aus dem Schrank und zieht ihn an. Dann ist er stolz. Stolz, dass er eine Frau hat und verheiratet ist.

Für andere mag das normal sein, für ihn nicht. Denn Mirco Güse (49) führt ein Leben jenseits der Norm. Er hat keine normale Wohnung und keinen normalen Job. Weil er „besonders“ ist, wie es oft heißt. Denn Mirco Güse hat das Down-Syndrom und gilt offiziell als „geistig behindert“. So wie seine Frau Annaliza Schuldt (30).

Hochzeit mit Down-Syndrom: Ihre Liebe braucht keine Worte

Wenn Mirco Güse über Annaliza spricht, formt er mit Zeigefinger sowie Daumen ein Herz und zeigt erst auf sich und dann auf sie. Es ist seine Art „Ich liebe Dich“ zu sagen. Es ist seine Art der Verständigung. Denn richtig sprechen kann er nicht. Er hat als Kind nie laut gelacht, nie gebrüllt und nie geweint. Und er hat nie die Lautsprache gelernt.

Vermutlich war er schon als Kind schwerhörig, doch so richtig gemerkt hat das niemand früher. Früher, als man einfach annahm, dass Kinder wie er nun mal nicht sprechen können. Früher, als er stundenlang mit seinen Matchboxautos gespielt hat, ohne Brummgeräusche zu machen, einfach nur stumm. Seine Mutter Brunhilde Güse hat die Autos bis heute aufgehoben, in einer Kiste auf dem Dachboden.

Mirco Güse und Annaliza Schuldt verständigen sich mit eigenen Zeichen

Mirco Güse spricht nur drei Worte: Mama, Papa und Auto. Vor ein paar Jahren hat er ein Hörgerät bekommen. Er hat es nur einmal getragen, danach hat er es sorgfältig in die Schachtel gelegt und im Schrank verstaut. Es stört ihn. Mirco hat sich seine eigene Sprache angeeignet. Ein paar einfache Zeichen, mit denen er sich verständigen kann.

Annaliza Schuldt und Mirco Güste haben beide das Down-Syndrom. Auch wenn sie vor dem Gesetz nicht ehefähig sind, wollten die beiden heiraten.
Annaliza Schuldt und Mirco Güste haben beide das Down-Syndrom. Auch wenn sie vor dem Gesetz nicht ehefähig sind, wollten die beiden heiraten. © privat | Privat

Drehende Hände stehen für Fahrradfahren, greifende Finger für einen dicken Hamburger und auseinadergestreckte Arme für eine lange Limousine. Und mit einer Hebelbewegung des Armes zeigt Mirco Güse, wovon er träumt: Von einem Job bei der Müllabfuhr. Er würde hinten auf dem großen Wagen mitfahren und den Hebel für die Mülltonnen betätigen. Im Moment arbeitet er bei den Norderstedter Werkstätten in der Gärtnerei. Sein Vater war früher Landschaftsgärtner.

Agata Sanlier (51) kennt jedes dieser Zeichen, versteht jede Bedeutung. Sie ist Sozialpädagogin und arbeitet seit 21 Jahren in der Wohngruppe, in der Mirco lebt. Mit 18 ist er hier eingezogen, heute ist er 49. In seinem Zimmer hängen Bilder vom BVB und Autos an der Wand, vielen Autos. Auf dem Bett liegt ein Spiderman-Kopfkissen.

Ungewöhnliche Liebesgeschichte: Mirko und Annaliza haben das Down-Syndrom

Früher, kurz nachdem Annaliza in die Wohngemeinschaft der Lebenshilfe in Norderstedt eingezogen ist, hat sich Mirco oft abends sein Kopfkissen und die Bettdecke unter den Arm geklemmt und ist damit zu Annaliza ins Zimmer gezogen. Dann hat er die Decke auf dem Boden ausgebreitet und sich vor ihr Bett gelegt. Um über sie zu wachen, ihr nahe zu sein. Agata Sanlier sagt, dass Mirco ihr gezeigt hat, was wahre Liebe ist.

Dies ist die Geschichte einer ungewöhnlichen Liebe. Ungewöhnlich und doch vollkommen normal. Denn Annaliza Schuldt und Mirco Güse sind ganz normal verliebt. Sie lieben und streiten sich, lachen und leiden gemeinsam. Wenn einer der beiden nicht da ist, hat der andere Sehnsucht. Abends sitzen sie zusammen auf dem Bett und sehen fern, der Ton ist immer aus. Sie würden nichts davon hören.

Auch Annaliza ist schwerhörig und spricht nicht viel. Mit anderen redet sie manchmal, aber wenn sie mit Mirco zusammen ist, verständigen sich in ihrer eigenen Sprache, die keine Wörter braucht. Nur wenn ihre Mutter da ist, sagt Annaliza manchmal „Mama“.

Liebe ohne Worte: Sie träumen davon, einmal gemeinsam in den Süden zu fliegen

An Mircos Zimmerwand, zwischen den Bildern von den ganzen Autos, hängt die Schwarz-Weiß-Aufnahme eines großen Flugzeuges. Die beiden träumen davon, einmal in den Urlaub zu fliegen. Einmal zusammen in der Sonne am Strand zu liegen. Auf Mallorca oder so. Das kennen sie aus dem Fernsehen. Sie sind noch nie zusammen in den Urlaub geflogen.

Sie sparen für einen Urlaub zu dritt. Sie beide – und ein Betreuer. Am liebsten Agata. Alleine verreisen können sie nicht, dürfen sie nicht. Keiner von ihnen ist fähig, sich alleine zurechtzufinden. Keiner von ihnen ist geschäftsfähig, wie es heißt. Und aus diesem Grund darf keiner von ihnen heiraten. Offiziell.

Geschäftsfähig und Liebe. Worte wie aus zwei Welten, so scheint es. Und doch untrennbar verwoben. Denn wer in Deutschland heiraten will, muss geschäftsfähig sein. Und wer geschäftsunfähig ist, darf keine Ehe eingehen. So wie Annaliza und Mirco. So steht es im Gesetz.

Hochzeit verboten: Wer geschäftsunfähig ist, darf laut Gesetz keine Ehe eingehen

Laut Paragraph 104 BGB ist jemand geschäftsunfähig, wenn er nicht das siebte Lebensjahr vollendet hat oder sich in einem, die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet.

Die Ehefähigkeit gilt laut Gesetz als Sonderfall der Geschäftsfähigkeit. So besagt § 1304 BGB, dass jemand, der geschäftsunfähig ist, keine Ehe eingehen kann. Daher ist es die gesetzliche Pflicht des Standesbeamten, die Ehegeschäftsfähigkeit der Betroffenen zu prüfen. So die Theorie.

„Diskriminierend“: Warum Gesetz gegen UN-Behindertenrechtskonvention verstößt

Für Ulrich Vollhardt ist das Gesetz diskriminierend. Er ist Geschäftsführer des Lebenshilfe-Werks Norderstedt und setzt sich seit Jahren dafür ein, dass auch Menschen mit Behinderung heiraten dürfen – wie alle anderen Menschen auch. „Dieses Gesetz schließt Menschen mit Behinderung von einem kompletten Lebensbereich grundsätzlich aus. Das ist eine total unangemessene und veraltete Sichtweise – und widerspricht damit eindeutig der UN-Behindertenrechtskonvention“, sagt Vollhardt.

Laut Artikel 23 der UN-Behinderten­rechts­konven­tion sind Vertragsstaaten verpflichtet, wirksame und geeignete Maßnahmen zu treffen, um die Diskriminierungen von Menschen mit Behinderungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung mit anderen in Fragen der Ehe, Familie, Elternschaft und Partnerschaft zu beseitigen.

„Zum Glück gibt es immer mehr Standesämter, die das Gesetz aufweichen und eine Ehe von Menschen mit Behinderung zulassen“, sagt Vollhardt und erzählt von zwei anderen Paaren mit Down-Syndrom, die in Norderstedt standesamtlich getraut wurden. „Wir achten natürlich darauf, dass eine Ehe kein spontaner Wunsch ist, sondern einem tiefen Bedürfnis entspricht. Wenn das der Fall ist, dürfen wir dem nicht im Weg stehen“, so die Meinung von Vollhardt.

Behinderung: Rund eine Million Menschen in Deutschland haben geistige Behinderung

Für Mirco Güse und Annaliza Schuldt sind Worte wie „geschäftsfähig“ oder „ehefähig“ wie aus einer anderen Welt. Eine Welt, die sie nicht verstehen – und die Menschen mit Behinderung nicht versteht, so scheint es. Eine Welt, die nicht versteht, dass Menschen mit Behinderung die gleichen Bedürfnisse haben wie andere Menschen. Dass sie genauso leben wollen, genauso lieben wollen.

Doch Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung können nicht einfach beieinander übernachten, zusammenziehen oder heiraten. Sie müssen alles mit ihren Eltern, gesetzlichen Betreuerinnen und Erziehern abklären. Davon betroffen sind mehr als eine Millionen Menschen in Deutschland.

Laut Statistik gibt es bundesweit rund 7,8 Millionen schwerbehinderte Menschen. Eine geistige oder seelische Behinderungen haben insgesamt 14 Prozent der schwerbehinderten Menschen.

Zeichensprache: Ein Herz am Mund steht für küssen

Die Geschichte von Annaliza und Mirco beginnt, wie die vieler Liebespaare. Beim Tanzen. In der Tanzschule Creativ, die monatlich eine Disco für Menschen mit Behinderung veranstaltet, lernen sich die beiden kennen. Als Mirco nach diesem Abend nach Hause kommt, probiert er immer wieder, ihren Namen zu sagen. Doch niemand versteht ihn. Bis er schließlich mit seinen Fingern ein Herz formt und an den Mund führt. Als Zeichen, dass er sich verliebt hat.

In seiner Wohngruppe des Lebenshilfe-Werks Norderstedt erzählten sich die anderen Bewohner schnell, dass Mirco jetzt eine Freundin hat. „Die Hübsche von Mirco“ nannte man sie. Als Mirco Annaliza das erste Mal zu sich einlädt, bittet er die Betreuer, einen Kuchen zu backen und Blumen zu kaufen. Er zieht sich einen schönen Anzug an und bindet eine Krawatte um. Für sein Mädchen.

Irgendwann, kurz nach dem ersten Date, räumte Mirco ein Fach in seinem Schrank leer. Für Annaliza.

Heiratsantrag: Bei der Hochzeit von Prinz Harry kniete Mirco vor Annaliza nieder

Sieben Jahre ist das jetzt her. Sieben Jahre, in denen aus Verliebtheit Liebe geworden ist. In denen Annaliza Mirco schließlich nicht mehr nur an den Wochenenden besuchte, sondern zu ihm zog, in dieselbe Wohngruppe, aber in ein eigenes Zimmer. Das hat sie bis heute. Auch wenn sie fast immer bei Mirco ist.

Als Prinz Harry 2018 entgegen aller Widerstände Megan Markle heiratet, sitzen Annaliza und Mirco vor dem Fernseher und gucken zu. Bis Mirco plötzlich vor Annaliza auf die Knie geht und so tut, als ob er ihr einen Ring über den Fing schiebt. Er brauchte keine Worte, sie versteht ihn auch so.

Ihre Familien und Freunde haben alles dafür getan, damit Mirco und Annaliza heiraten können. Nicht auf dem Standesamt, nicht vor dem Gesetz. Aber mit einer Traurede, christlichem Segen, Brautkleid und Hochzeitstorte. Und einer Limousine natürlich. Die war Mirco ganz wichtig, die gehörte für ihn einfach dazu. Genauso wie ein neuer, perfekt sitzender Anzug, in Dunkelblau. Als er sich darin das erste Mal selbst vor dem Spiegel sieht, muss er sich schnell wegdrehen. Weil ihm die Tränen kommen.

Sie machen uns allen etwas vor: Innige Liebe ohne jede Bedingung

In Geschichten und Filmen gibt es oft ein Happy End. Für Mirco und Annaliza nicht. Weil ihre Geschichte nicht endet. Sondern immer weitergeht. Bei ihrer Hochzeit wird ein Lied gespielt, in dem es heißt: „Ich weiß, dass Du mich nicht fallen lässt. Ich weiß, dass Du mich hältst bis zuletzt. Um nichts in der Welt gebe ich dich her, weil mich sonst nichts hält.“

Als die beiden bei der Zeremonie am Feuerwehrmuseum Norderstedt vor die Traurednerin treten, sagt diese: „Diese Hochzeit unterscheidet sich von anderen Trauungen, weil auch unsere Brautleute ganz besondere Menschen sind. Und wenn auch unsere gesetzlichen und die kirchenrechtlichen Regelungen keinen ausreichenden Spielraum für diese besonderen Bedürfnisse haben, so bin ich ganz sicher, dass Gottes Liebe zu uns Menschen groß genug ist, um Annalizas und Mircos nach einer formellen Verbindung mit seinem Segen zu legitimieren.“

Und im Hinblick auf die beiden verstorbenen Väter von Mirco und Annaliza fügt sie hinzu: „Ihr könnt euch anschauen, wie Eure Kinder uns allen etwas vormachen: nämlich innige Liebe ohne jede Bedingung.“

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Als die Rednerin den Brautleuten die Traufrage stellt, bittet sie Mirco und Annaliza, ihr Eheversprechen mit einer innigen Umarmung zum Ausdruck zu bringen. Doch Mirco umarmt Annaliza nicht. Er hat die Worte nicht richtig verstanden. Er küsst sie. Innig, überwältigt, glücklich. Dann tauschen die beiden die Ringe.

Liebe ohne Worte: Mirco Güse und Annaliza Schuldt tauschen bei ihrer Hochzeit die Ringe.
Liebe ohne Worte: Mirco Güse und Annaliza Schuldt tauschen bei ihrer Hochzeit die Ringe. © privat | Privat

Wenn Mirco heute sonntags seinen Hochzeitsanzug anzieht, holt Annaliza meistens ihr Buch raus. Ihr Fotobuch von der Hochzeit. Dann gucken sie sich gemeinsam die Bilder an, eins nach dem anderen, fast andächtig. Niemand von ihnen spricht dabei. Ihre Liebe braucht keine Worte.