Henstedt-Ulzburg. Markus Ryschka bekam mit 29 seinen ersten Job. Sein langer Weg in den Arbeitsmarkt und wie ihm ein Mentor half.

Markus Erich Ryschka räumt neue Ware in die Regale ein. Anschließend geht er die Gänge des Edeka-Marktes sorgfältig ab und kontrolliert, ob alle Produkte an der richtigen Stelle einsortiert wurden und ordentlich in ihren Fächern liegen. Ryschka arbeitet erst seit wenigen Tagen für das Ehepaar Oertwig in Henstedt-Ulzburg. Das ist sein erster Job auf dem freien Arbeitsmarkt.

Markus Erich Ryschka sorgt bei Edeka Oertwig in Henstedt-Ulzburg dafür, dass die Ware ordentlich in die Regale geräumt wird.
Markus Erich Ryschka sorgt bei Edeka Oertwig in Henstedt-Ulzburg dafür, dass die Ware ordentlich in die Regale geräumt wird. © Annabell Behrmann

Jahrelang hat er davon geträumt, in einem Lebensmittelgeschäft im Einzelhandel zu arbeiten. Bestimmt 20 Bewerbungen hat er geschrieben und schon mehrere Praktika absolviert. „Nie hat es geklappt“, sagt der Kaltenkirchener. Bis jetzt.

Doch so richtig stolz auf seine erste Arbeitsstelle zu sein, fällt ihm noch schwer. Er findet, es sei nichts Besonderes, im Alter von 29 Jahren einen Job zu haben. Im Gegenteil. Aber so selbstverständlich wie für die meisten anderen Menschen ist diese Tatsache für Ryschka eben nicht.

Inklusion: „Uns komplett egal, dass Markus Asperger-Syndrom hat“

2017, als er 23 Jahre alt war, wurde bei ihm das Asperger-Syndrom diagnostiziert. Das ist eine Form von Autismus. Betroffenen fällt es oft schwer, soziale Kontakte zu knüpfen und Empathie zu zeigen. Zum Zeitpunkt der Diagnose befand sich Ryschka bereits seit vier Jahren in Behandlung der Tagesklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Kaltenkirchen.

Weitere drei Jahre sollten folgen. Ryschka litt an schweren Depressionen, fühlte sich innerlich leer. Die Klinik gab seinem Leben wieder Struktur.

Die Einrichtung liegt direkt gegenüber vom Gymnasium Kaltenkirchen. Hier ist der gebürtige Wolfsburger jahrelang zur Schule gegangen – bis er sie in der zehnten Klasse abgebrochen hat. „Als Schüler hätte ich mir natürlich niemals vorstellen können, dass ich einmal in der Tagesstätte lande“, sagt Ryschka. Im Nachhinein sieht er diese Zeit, diese 84 Monate, als „verschwendet“ an. Aber sie haben ihm geholfen, wieder zu sich zu finden. Glücklicher zu werden.

Weinhändler Marco Kreuzaler setzt sich für Inklusion ein

Im August 2020 begann er eine berufsvorbereitende Maßnahme beim Berufsbildungswerk in Neumünster. Wenige Monate zuvor lernte er Marco Kreuzaler kennen, einen Weinhändler aus Kaltenkirchen. Ryschka nahm an einem Spendenlauf teil und hat einen Sponsor gesucht, der ihm für jede gelaufene Runde einen Beitrag zahlte. In Marco Kreuzaler fand er noch viel mehr als nur einen Geldgeber. Der 57-Jährige wurde zu seinem Mentor.

Marco Kreuzaler (l.) aus Kaltenkirchen hat 2022 eine Kunstausstellung veranstaltet, um auf das Thema Inklusion aufmerksam zu machen. Markus Erich Ryschka durfte seine Werke ebenso wie Künstler Nils Peters (r.) ausstellen.
Marco Kreuzaler (l.) aus Kaltenkirchen hat 2022 eine Kunstausstellung veranstaltet, um auf das Thema Inklusion aufmerksam zu machen. Markus Erich Ryschka durfte seine Werke ebenso wie Künstler Nils Peters (r.) ausstellen. © Annabell Behrmann | Annabell Behrmann

„Markus ging in die Klasse meines Sohnes. Er hat mir erzählt, dass Markus meistens außen vor war“, berichtet Kreuzaler. Er fing an, mit dem jungen Mann E-Mails zu schreiben. „Er spricht nicht so gerne. Deswegen hat er mir seine Geschichte geschrieben.“ An die 3500 Mails haben sie bestimmt schon ausgetauscht, schätzt Kreuzaler. „Er liegt mir sehr am Herzen. Ich möchte nur das Beste für ihn.“

Unternehmen werben mit Inklusion – praktizieren sie aber nicht

Der Familienvater begann, Ryschka auf seinem Weg auf den Arbeitsmarkt zu unterstützen. „Ich habe viele große Firmen in Hamburg abgeklappert, die im Internet auf ihren Seiten mit Inklusion geworben haben. Doch wenn man mit einem konkreten Fall zu ihnen kommt, ist die Bereitschaft doch sehr gering“, sagt Kreuzaler.

Er findet das sehr schade. „Die Gesellschaft und Unternehmen sind schnell dabei, Marketing mit Inklusion zu machen. Aber sie sollten es auch ernst meinen. Sonst führt das zu unglaublich großer Frustration.“

Ryschka begann über das Berufsbildungswerk eine zweijährige Ausbildung zum Verkäufer. In dieser Zeit gab es immer wieder Momente, in denen er gern alles hingeworfen hätte. „Es war eine Herausforderung, ihn in der Ausbildung zu halten. Ich habe ihm immer wieder gesagt: ,Markus, zieh das durch‘“, sagt Kreuzaler. Und er hat es durchgezogen. Und seine Abschlussprüfung mit der Note „sehr gut“ bestanden. „Das ist bemerkenswert“, findet sein Mentor.

Für Edeka Oertwig ist Ryschka „einfach ein ganz normaler Mitarbeiter“

Schon vor seinem Abschluss hatte Ryschka im Februar dieses Jahres ein Langzeitpraktikum bei Edeka Oertwig in Henstedt-Ulzburg begonnen. „Er hat uns von Anfang an überzeugt. Schon an seinem ersten Tag wusste er, wo alles steht. Für uns war klar: Wir übernehmen ihn auf jeden Fall, wenn er seine Prüfung besteht“, sagt Antje Oertwig, die den Edeka-Markt gemeinsam mit ihrem Mann leitet.

Seit Kurzem ist Ryschka nun fest angestellt. Sein Vertrag ist unbefristet. 40 Stunden in der Woche arbeitet er. „Es ist uns komplett egal, dass Markus das Asperger-Syndrom hat. Bloß weil jemand eine Behinderung hat, heißt das nicht, dass er bei seiner Arbeit eingeschränkt ist“, sagt Oertwig.

Ihr ist es wichtig zu betonen, dass es für sie nichts Außergewöhnliches ist, einen Autisten bei sich zu beschäftigen. „Markus ist einfach ein ganz normaler Mitarbeiter. Jeder wird bei uns mit seinen Stärken und Schwächen akzeptiert.“

Job gibt Halt und steigert Selbstvertrauen

Ryschka gibt sein Job ganz viel Halt. „Die Arbeit steigert mein Selbstvertrauen. Ich bin offener geworden und kann hier den Kontakt mit Menschen trainieren“, sagt er. Der Edeka-Mitarbeiter konnte sich nie vorstellen, in einer Werkstatt für Menschen mit einer Behinderung zu arbeiten.

Er würde sich wünschen, dass noch mehr Arbeitgeber auf dem freien Markt Menschen wie ihm eine Chance geben. „Jeder Mensch kann etwas. Man muss es einfach ausprobieren, ob er nicht vielleicht doch geeignet für den Job ist.“

Inklusion: Viele Unternehmen zahlen lieber Strafe, als einzustellen

Viele Unternehmen in Deutschland zahlen noch immer lieber eine sogenannte Ausgleichsabgabe, ehe sie beeinträchtigte Menschen bei sich im Betrieb beschäftigen. Aktuell kostet jede nicht besetzte Pflichtarbeitsstelle bis zu 360 Euro pro Monat. Diese Zahlung soll sich mit einem neuen Gesetz ab 2024 bis auf das Doppelte erhöhen. Die Bundesregierung will den Arbeitsmarkt inklusiver machen.

Menschen mit Behinderungen seien oft überdurchschnittlich qualifiziert und hochgradig motiviert, sagt Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD). Trotzdem seien sie wesentlich öfter von Arbeitslosigkeit betroffen. „Um das zu ändern, machen wir mit gezielten Maßnahmen den Arbeitsmarkt inklusiver.“

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD): 166.000 Menschen stünden zur Verfügung

Aus Heils Sicht ist es ein unterschätztes Thema, Menschen mit Behinderung für den regulären Arbeitsmarkt zu gewinnen. Rund 166.000 Menschen stünden zur Verfügung, wenn das Potenzial besser ausgeschöpft würde.

Alle Arbeitgeber mit mindestens 20 Arbeitsplätzen sind verpflichtet, wenigstens fünf Prozent davon mit schwerbehinderten Menschen zu besetzen. Wird diese Anforderung nicht erfüllt, müssen die Firmen eine Ausgleichsabgabe zahlen, deren Höhe sich nach der Zahl der nicht besetzten Pflichtarbeitsplätze richtet.

„Mir ist klar, was es für ein Aufwand ist, jeden Menschen auf den ersten Arbeitsmarkt zu holen. Da sind so viele Einzelfälle. Es gibt kein einfaches Rezept für eine gesamtheitliche Lösung“, sagt Weinhändler Marco Kreuzaler.

Aber dass es sich lohnt, für jeden Einzelnen zu kämpfen, sieht er an seinem Schützling. „Dieser Arbeitsplatz gibt Markus Struktur, Halt und Unabhängigkeit. Er bekommt ein normales Gehalt, wird selbstbewusster und überlegt, zu Hause auszuziehen. Der Job hat eine herausragende Bedeutung für ihn.“