Norderstedt/Berlin. Speerwerfer Franz Bechler wurde unter Hunderten Athleten ausgewählt. Bei den Dreharbeiten bewies er Hollywood-Qualitäten.
Als er an diesem Morgen im ICE Nummer 703 nach Berlin-Spandau sitzt und aus dem Fenster guckt, muss er immer wieder den Kopf schütteln. Denn so richtig glauben, kann es Franz Bechler aus Norderstedt selbst nicht. Dass er, ausgerechnet er, für einen Werbespot von Coca-Cola ausgewählt wurde. Dass er gleich im Olympiastadion Berlin drehen wird – an der gleichen Stelle, an der das DFB Pokalfinale ausgetragen wird und Stars wie Pink, Depeche Mode und Rammstein auftreten werden.
Die anderen sind Weltstars, er selbst ist – „einfach nur Franz“, sagt er, wenn er sich vorstellt. Ganz ohne seinen Nachnamen. So wie man das im Sport so macht. Denn Sport ist für Franz Bechler alles. Er trainiert zwei bis dreimal in der Woche für sein großes Ziel. Eine Goldmedaille.
Special Olympics: Norderstedter dreht Werbespot für Coca Cola
Zu Weihnachten hat er sich ein goldenes Staffelholz gewünscht. Er hofft, dass die Farbe ihm Glück bringen wird. Dass er im Sommer Gold holen wird. Hier in Berlin, bei den Special Olympics World Games, den Olympischen Spielen für Menschen mit geistiger Behinderung.
Franz Bechler hat Trisomie 21, das so genannte Down-Syndrom. So die offizielle Diagnose. Franz selbst würde allerdings nicht sagen, dass er so etwas „hat“. Weil das so klingt, als ob er eine Krankheit hat. Aber so ist es nicht! Und das will er allen zeigen.
Franz Bechler will bei den Special Olympics in Berlin Gold für Deutschland holen
Es ist kurz vor zehn, als Franz Bechler im Olympiastadium eintrifft. Ein Wagen hat ihn und seine Trainerin Maike Rotermund vom Bahnhof Berlin-Spandau abgeholt und zum Drehort gebracht. Dort wird der Athlet aus Norderstedt schon erwartet – von einer Produzentin und den Regisseuren, den Kameraleuten und Tontechnikern, dem Presseteam von Coca-Cola und einer Maskenbildnerin.
Knapp 50 Leute sind es. „So viele Menschen“, staunt Franz. Er ist schon ein paar Mal interviewt oder fotografiert worden, er ist geübt im Umgang mit Medien. „Aber so was habe ich noch nie erlebt“, sagt Franz, während er in der Maske sitzt. Es ist das erste Mal, dass er geschminkt wird. Der Pinsel kitzelt, findet er.
Das Baseballcap ist sein Markenzeichen – heute setzt er es verkehrt herum auf
Nadin Wagner (44) ist seine Maskenbildnerin – und wird im Laufe des Tages seine Vertraute. Sie pudert und plaudert, beruhigt und berät – zum Beispiel bei der Wahl des richtigen Outfits für den Dreh. Die Produktionsfirma hat verschiedene T-Shirts, Hosen, Socken und sogar Schuhe besorgt. „Aber das sind ja Fußballschuhe“, sagt Franz und deutet auf die Stollen.
„So was trägt man nicht beim Speerwerfen.“ Zum Glück hat er gestern zusammen mit seiner Mutter neue Turnschuhe gekauft. Die lässt er jetzt einfach an. Genauso wie die Baseballcap, die er immer trägt. Sie ist sein Markenzeichen. Aber heute setzt er sie verkehrt herum auf, mit dem Schirm nach hinten. Das sieht cooler aus, findet er.
Er entscheidet sich für ein rotes Hemd, ein weißes Shirt und eine schwarze Hose. Sie ist kurz. Draußen sind es gerade mal fünf Grad, doch das stört ihn nicht. Wenn er den Speer in der Hand hält, vergisst er die Außenwelt, dann ist er wie im Tunnel. Fokussiert auf die Bewegungsabläufe. Sein Rekord liegt bei 20,30 Metern. Im Sommer will er 23 schaffen. „Das heute ist mein Training dafür“, sagt Franz Bechler.
Dreh im Olympiastadion: Beim Einmarsch von Franz läuft „Sweet like Cola“
Nadin Wagner legt ihm einen blauen Bademantel um die Schultern, damit er draußen nicht friert, dann geht es los. Auf ihrem Handy hat die Maskenbildnerin das Lied „Sweet like Cola“ rausgesucht, Franz hat sich den Song für seinen Einmarsch ins Stadion gewünscht. Er strafft die Schultern.
Es ist 10.53 Uhr, als Franz Bechler an der Seite des Regieassistenten aus den Katakomben tritt. Er wippt bei jedem Schritt, das ist es sein großer Auftritt. Bei Special Olympics ist er einer von vielen, heute ist er allein. Allein in einem Stadion mit 70.000 Plätzen. Niemand soll die Aufnahmen heute stören.
Allein im leeren Olympiastadion mit 70.000 Plätzen
Die Regisseure warten schon auf ihn, sie sind extra aus Spanien angereist. Sie recken den Daumen hoch, als sie Franz sehen. Sie sprechen kein Deutsch, Franz kein Englisch. Der Regieassistent Gregor übersetzt die Regieanweisungen für Maike Rotermund – und Maike Rotermund übersetzt diese noch einmal für Franz in leichte Sprache. Doch die Sprachkette klappt, Franz Bechler liefert den Regisseuren genau das, was sie sehen wollen.
Mal soll er nach einem gelungenen Wurf jubeln, mal in die Luft springen, mal die Faust in die Luft recken. Also jubelt er, springt und reckt die Faust. Er ist ein Profi, nicht nur im Umgang mit dem Speer. Immer wieder ruft der Regieassistent Gregor „And Action“, immer wieder geht Franz in den Ausfallschritt, nimmt den Arm zurück und schleudert den Speer in die Luft. Als er gefragt wird, ob er eine Pause braucht, winkt er ab. „Das ist wie Training für mich“, sagt Franz Bechler und stellt sich schon wieder in Position.
An einem Bildschirm verfolgen die beiden Regisseure jede Bewegung, studieren jeden Gesichtsausdruck. „Super, Franz“, rufen sie immer wieder, lassen die Szene dann aber noch einmal drehen. Und noch einmal. Und noch einmal.
„And Action“: Jede Szene wird mehrmals gedreht
Schließlich winken sie Franz zu sich und begutachten die Aufnahmen mit ihm am Bildschirm. Dann klopfen sie ihm auf die Schulter. Die Szene ist im Kasten, der erste Punkt der Tagesordnung ist geschafft. Drei weitere werden folgen.
Es gibt einen genauen Ablaufplan, der Tag ist minuziös geplant. Am Vormittag wird aus verschiedenen Perspektiven gefilmt, am Nachmittag stehen Tonaufnahmen und ein Fotoshooting an. Die Zeit ist knapp, um 17.17 muss Franz im Zug zurück nach Hamburg sitzen, darauf hat Maike Rotermund bestanden. Sonst wird es zu viel für ihn.
Normalerweise arbeitet er von 7.45 Uhr bis 16 Uhr in den Norderstedter Werkstätten, er ist in der Montagegruppe, wo unter anderem Schachteln für Niederegger Marzipan gefaltet werden. 8 Stunden dauert eine Schicht, inklusive 45 Minuten Pause. Heute hat er einen 15 Stunden-Tag.
In der letzten Nacht hat er extra zuhause bei seinen Eltern geschlafen und nicht in seiner Wohngruppe. Seine Mutter hat ihm etwas Geld für den Tag mitgegeben, die Scheine stecken in einer durchsichtigen DIN A4 Hülle. Franz will sich heute noch etwas Schönes dafür kaufen.
Von seiner Gage für den Dreh möchte sich Franz ein Handy kaufen
Er hat gehört, dass er von Coca-Cola ein bisschen Geld bekommt, weiß aber nicht, wie viel das sein wird. Geld ist für ihn abstrakt. Aber er weiß, was er sich davon gerne kaufen würde. „Ein Handy“, sagt er. „Damit ich Musik hören kann.“ Im Moment hat er nur einen tragbaren CD Spieler.
In der Pause legt er eine CD mit Ballermann-Hits ein, die hat er extra von zuhause mitgenommen. Mit seiner Wohngruppe war er schon mal auf Mallorca, aber dieses Jahr fahren sie in den Harz. „Aber erst nach den Special Olympics“, sagt Franz. Sonst würde er auch nicht mitfahren. Für ihn ist im Moment nichts wichtiger als die Special Olympics. Es ist der wichtigste Wettkampf seines Lebens.
Er tritt im Minispeerwurf sowie im 100-Meter-Sprint und der 4 x 100-Meter-Staffel an. Er läuft die 100 Meter in 18,1 Sekunden. „Aber im Sommer stell ich meinen neuen Rekord auf: Unter 18 Sekunden“, sagt Franz, hofft Franz. Er weiß, dass Usain Bolt hier im Olympiastadion bei den Leichtahletik-Weltmeisterschaften 2009 einen neuen Weltrekord im 100-Meter-Lauf aufstellte.
Statt Schweißtropfen gibt es ein paar Tropfen Wasser ins Gesicht
„Der schnellste Man der Welt – das klingt toll“, findet Franz Bechler. Er träumt davon, auch so schnell laufen zu können. „Das muss sich anfühlen, als ob man fliegt.“ Ob Bolt sein Vorbild ist? Franz Bechler denkt nach. „Nein, das ist der Alex“, sagt er und meint: Alexander Knaub, sein Teamkollege aus Norderstedt. Weil Alex den Minispeer über 30 Meter werfen kann. Das imponiert ihm.
Es ist 12.09 Uhr, als der Dreh weitergeht. Die Kameras filmen Franz Bechler jetzt von vorne, es ist schwierig, die richtige Position zu finden. Mal fliegt der Speer nicht weit genug, mal muss die Kamera vor dem Geschoss ausweichen. Die Regisseure am Rand stecken die Köpfe zusammen, beraten sich.
Die Maskenbildnerin spritzt Franz ein paar Wassertropfen ins Gesicht, sie sollen später wie Schweißtropfen aussehen. Es ist zu kalt, um ins Schwitzen zu geraten. Franz wirft und wirft. Langsam wird er müde, der Speer fliegt nicht mehr so weit wie am Anfang, einige Male fängt er in der Luft zu Trudeln an.
Während der Mittagspause übt Franz den Text, den er einsprechen soll
Maike Rotermund steht am Rand und beobachtet jede Bewegung von Franz. Sie erkennt, wie erschöpft Franz ist, weiß aber auch, dass er nicht freiwillig abbrechen will. Ein Dilemma. Immer wieder strecken die Regisseure die Daumen in die Luft. „Du bist super, wir haben nur Probleme mit der Kamera“, übersetzt der Regieassistent und bittet um noch einen Versuch. Und noch einen.
Dann endlich ist es geschafft, Mittagspause für alle. Maike Rotermund wickelt Franz in einen Bademantel ein und schlingt ihm eine Decke um die Beine. Arm in Arm gehen die beiden die Tartanbahn entlang. Trainerin und Athlet. Sie sind ein Team, Freunde.
Während des Essens geht Franz den Text durch, den er gleich einsprechen soll. Es sind nur ein paar Sätze. Er kann sie selbst lesen, darauf ist er stolz. Es gibt viele Menschen mit Down-Syndrom, die nicht lesen können. Er schon. „Ich bin Franz und ich geben immer etwas mehr bei allem, was ich tue“, murmelt er vor sich hin.
Beim Speerwerfen ist er in seinem Element, im Tonstudio fühlt er sich unsicher
Die anderen warten nach der Pause schon auf ihn. Die beiden Regisseure Louis und Nacho sowie der Regieassistent Gregor und ein Tontechniker. Heute morgen war in dem Raum die Garderobe, jetzt ist hier ein provisorisches Tonstudio aufgebaut. Franz ist nervös, das merkt Maike Rotermund sofort. Sie spricht ihm gut zu: „Das ist wie in der Theatergruppe, trau Dich“.
Franz spielt Theater, er ist es gewohnt, auf der Bühne zu stehen und frei zu sprechen. Aber hier drinnen, mit den dicken Kopfhörern auf den Ohren und dem Mikrofon vor der Nase purzeln die Worte in seinem Kopf durcheinander. Immer wieder liest Maike Rotermund ihm die beiden Sätze vor. Zuerst komplett, dann nur einzelne Teile davon. Franz schielt auf das Blatt Papier in seiner Hand, doch die Schrift ist zu klein, um sie auf die Schnelle lesen zu können. Jetzt kommt er doch ins Schwitzen.
Draußen auf dem Platz war er in seinem Element, stark und selbstbewusst. Hier drinnen fehlt ihm das Selbstbewusstsein, das heute morgen alle an ihm bewundert haben. Maike Rotermund tröstet, baut auf, motiviert, macht Mut. Mit Erfolg. Nach einigen Anläufen schafft Franz Bechler seinen Text. Der Regisseur klatscht mit ihm ab. „Super, Franz!“ Maike Rotermund atmet erleichtert auf. Es ist geschafft, sie ist geschafft.
„Atemlos“ beim Fotostudio mit Franz Bechler
Kurze Pause, dann geht es weiter. 15.41 Uhr. In einer Stunde muss Franz zum Bahnhof. Die Zeit ist knapp. Wieder läuft „Sweet like Cola“, als er ins Stadion marschiert. Doch dieses Mal lassen sie den Song laufen, als Franz vor die Kamera tritt. „Bei Fotos stört das ja nicht“, sagt er und setzt ein Lächeln auf. Dann legt er los. Er streckt den Speer in die Luft, umarmt ihn vor der Brust, reckt ihn in die Kamera. Er lächelt, strahlt, grinst. Jede Pose sitzt. Er spring in die Luft, wiegt die Hüften, schmeißt sich auf den Boden. Er gibt alles.
Aus der Musikbox kommt Helene Fischer. Sie ist auch schon mal hier im Olympiastadion aufgetreten. 2008 war das. „Atemlos“, singt Franz Bechler mit und imitiert mit dem Minispeer eine Gitarre, auf der er spielt. Ist ein Lieblingssong von ihm. Die Zuschauer lachen, in den letzten Minuten hat sich eine Traube um Franz gebildet. Auch das Team von Coca-Cola hat sich zu den Zuschauern gesellt. Sie sind sich sicher, dass sie eine gute Wahl getroffen haben, als sie sich für Franz Bechler entschieden haben.
- Norderstedt: Maike Rotermund – seit 39 Jahren auf Medaillenkurs
- Special Olympics: „Besondere Ehre“ – Norderstedter repräsentieren Deutschland
- Fackellauf für Special Olympics World Games beginnt
Special Olympics: Norderstedter dreht Werbespot für Coca Cola
Eine letzte Aufnahme, dann lässt der Fotograf die Kamera sinken. Schluss, Aus, Ende. Er ist zufrieden. Franz Bechler grinst. Er will gerade zurück in die Garderobe, als der Fotograf ihn zurückruft. Er möchte doch noch ein Bild machen. Ein Selfie mit Franz Bechler. Zur Erinnerung. Auf der Heimfahrt nach Hamburg sagt Franz nicht viel. Aber er lächelt, als er aus dem Fenster guckt.