Norderstedt/Henstedt-Ulzburg. Ein 45 Jahre alter Mann muss sich vor Gericht verantworten, weil der Junge ungewöhnlich viele blaue Flecken hatte.

Blaue Flecken an der Schulter, sowie am Arm und auch am Po. Außerdem ein rot geschwollenes Ohr sowie Symptome einer möglichen Gehirnerschütterung. Mit diesen Symptomen wurde ein damals 13 Monate alter Junge im Mai 2022 ins Kinderkrankenhaus Altona eingeliefert. Bei den Ärzten löste das den Verdacht auf Kindeswohlgefährdung aus. Und deshalb muss sich jetzt ein 45 Jahre alter Mann vor dem Norderstedter Amtsgericht verantworten, der damals eine Kindertagespflege in Henstedt-Ulzburg betrieb.

Anzeige erstattet hatten die Eltern des Jungen – zwei Frauen, miteinander verheiratet, 34 und 40 Jahre alt. Die 40-Jährige ist die leibliche Mutter des Kindes, die Familie lebt in Henstedt-Ulzburg. Beide wurden am ersten Verhandlungstag als Zeuginnen gehört. Sie wurden von einer Prozessbegleiterin unterstützt, es war beiden anzusehen, wie sehr sie die Geschehnisse noch immer aufwühlten.

„Wir waren froh, einen Betreuungplatz zu haben“

Zunächst sprach die 34-Jährige, schilderte ihre Sicht der Geschehnisse, die sich innerhalb weniger Tage Ende Mai 2022 abspielten. Damals wurde das Kind in der Tagespflege eingewöhnt, nachdem ein erster Anlauf im März wegen einer Corona-Erkrankung unterbrochen werden musste. „Wir waren froh, einen Betreuungsplatz zu haben. Das ist in diesen Zeiten ja schwierig“, so die 34-Jährige. Von der Einrichtung und dem frei werdenden Platz hatte sie über die Bekannte einer Freundin gehört.

Sie habe zuerst einen guten Eindruck von der Tagespflege-Einrichtung gehabt, in der ihr Sohn als jüngstes von insgesamt fünf Kindern betreut werden sollte. „Wir hatten ein grundsätzlich positives Gefühl. Es war sauber, es gab viele verschiedene Spielsachen, alles war kindgerecht.“ Der Leiter der Einrichtung, der die Kinder allein betreute, sei ihr wie ein „ruhiger, aber freundlicher, netter Mann“ vorgekommen. Und auch die erste Zeit der Eingewöhnung sei gut gelaufen: „Ich war superfroh, als mein Kind zum ersten Mal dort Mittagsschlaf machte.“

Dann aber kam ein Wochenende, das sie ohne ihre Ehefrau verbrachte – denn die sollte mal ein paar Tage ohne Stress allein zu Hause verbringen, das hatte sie ihr geschenkt. Sie selbst verbrachte das Wochenende mit dem Kind bei einer Freundin, die nur ein paar Autominuten entfernt wohnt.

Das Kind hatte blaue Flecken am Rücken, sowie rote Flecken am Nacken

Die beiden Frauen stellten an diesem Wochenende fest, dass das Kind „viele kleine, blaue Flecken“ auf dem Rücken und auch blaue Flecken am Arm und am Po hatte, sowie rote Flecken am Nacken. Und es gab weitere Auffälligkeiten, die auch der Freundin, die ebenfalls Kita-Erzieherin ist, komisch vorkamen. Das Kind sei „sehr schlecht drauf“ und besonders anhänglich gewesen, habe viel geweint – so bestätigte es später auch die Freundin, die ebenfalls als Zeugin gehört wurde.

Die Situation verschärfte sich. Schon am Montag danach habe der Junge nach der Tagesbetreuung eine „dunkelrote Quetschwunde am Ohr“ gehabt. Und einen weiteren Tag später habe der Junge nach dem Abholen eine „große Beule am Hinterkopf“ gehabt, habe nicht mehr richtig laufen, sondern nur noch auf dem Arm sitzen wollen. Er sei gestürzt, habe es geheißen. „Wir haben dann sofort einen Krankenwagen geholt.“

Notarzt im Krankenwagen riet, ins Altonaer Kinderkrankenhaus zu fahren

Auf Anraten des Notarztes wurde der Junge ins Altonaer Kinderkrankenhaus gebracht, mit Verdacht auf Gehirnerschütterung. Der bestätigte sich zwar nicht, wohl aber fielen die blauen Flecken und Quetschungen auf. Die Ärzte dokumentierten alles sofort, auch mit Fotos. Es wurde auch eine Kriminologin hinzugeholt, sowie Mitarbeiter des Jugendamtes.

„Es hieß, es gebe den Verdacht auf Kindeswohlgefährdung. Wir haben dann viele Gespräche über uns ergehen lassen müssen. Das war schwer zu ertragen“, sagte die 34-Jährige. Dann hätten die beiden Frauen Anzeige gegen den Tagesvater erstattet, obwohl sie gegen den eigentlich keinen Verdacht gehegt, sich nie hätten vorstellen können, dass „so etwas passiert“. All das sei „wie im Film“ gewesen.“

Die 40 Jahre alte Ehefrau und Kindsmutter schilderte all das sehr ähnlich – obwohl sie selbst nicht mit im Krankenhaus war, da sie das psychisch nicht geschafft hätte, wie sie sagte. Auch ihr Eindruck vom Tagesvater und von der Einrichtung, das sagte sie auf Nachfrage, sei eigentlich gut gewesen.

Seltsamer Eindruck im Nachhinein: In der Kita sei es „extremst ruhig“ gewesen

Nur im Nachhinein sei den beiden etwas seltsam vorgekommen. Die Kinder seien dort „extremst ruhig“ gewesen. „So etwas habe ich noch nie gesehen“, sagte die Frau, die selbst als Erzieherin arbeitet. Und: als der Tagesvater einmal ein Kind mit ruhiger Stimme ermahnte, sei das Kind sofort „völlig erstarrt“ vor Schreck. Auffällig sei außerdem gewesen, dass ein Mädchen immer ganz allein gespielt und Bücher gelesen habe.

Der Mann, dem die schweren Vorwürfe gemacht werden, wirkte vor Gericht gefasst, aber angespannt. Der 45-Jährige, ein Mann mit seriösem Auftreten, trug vor Gericht ein Oberhemd und schaute immer wieder in seine Notizen zu den fraglichen Tagen im Mai. Auch er habe von den beiden Müttern einen guten Eindruck gehabt, „da war alles, wie es sein soll, kein Grund, eine Meldung beim Jugendamt zu machen“, sagte er. Der Kontakt sei sehr freundlich gewesen. Und auch die Eingewöhnung sei gut gelaufen.

Das Kind, das in diesen Tagen im Mai gerade laufen lernte, sei nach seiner Erinnerung zweimal in der Einrichtung gestürzt. Einmal „beim Händewaschen“ auf einem Laminatboden, ein weiteres Mal sei der Junge auf einen Duplostein gefallen. Er habe den Müttern jeweils Bescheid gesagt. Unter den Kindern werde natürlich auch mal geschubst, das sei normal, aber nichts Unauffälliges sei passiert.

Tagesvater: „Das war heftig, da ist für mich eine Welt zusammengebrochen“

Daran, dass das Kind einmal Symptome einer Gehirnerschütterung zeigte – die auch bis zu 48 Stunden später nach einem Unfall auftauchen können – erinnerte er sich auch. „Nach dem Mittagsschlaf konnte er nicht richtig stehen, war zitterig, wollte nur auf dem Arm sein.“ Er hatte davon sogar ein Video angefertigt. Die Mütter habe er natürlich informiert, das Kind sei dann abgeholt worden.

Dann sei alles Schlag auf Schlag gegangen. Er habe noch gehört, dass das Kind im Krankenhaus sei, habe sich erkundigt, aber schon bald mehr keine Rückmeldung mehr von den Müttern bekommen. Stattdessen habe sich wenig später das Jugendamt des Kreises Segeberg bei ihm gemeldet und ihm mitgeteilt, dass er seine Einrichtung erstmal nicht mehr weiter betreiben dürfe. Nun wurde auch der 45-Jährige emotional: „Das war heftig. Da ist eine Welt für mich zusammengebrochen.“

Er habe „ganz oft“ mit dem Jugendamt Kontakt gehabt, auch versucht, herauszubekommen, wie es dem Jungen gehe. Aber letztlich blieb ihm nichts anderes übrig, als die anderen Eltern zu informieren, dass diese sich nun einen neuen Betreuungsplatz suchen müssten, weil es den Verdacht gegen ihn gebe.

Andere Eltern hegten offenbar keinen Verdacht gegen den Tagesvater

Er habe dann „gewartet, wie es weitergeht“, aber nach einer Weile beschlossen, die Tagespflege für immer zu schließen. „Das war verdammt belastend. Ich hatte den Job seit 2015 gemacht, insgesamt 33 Kinder betreut. Es war schön, ihnen bei ihren Fortschritten zuzusehen.“ Und auch die Dankbarkeit der Eltern sei immer sehr groß gewesen. Mittlerweile arbeite er aber „wieder in der IT“, zurück in die Kindertagespflege wolle er, nach diesen Erfahrungen, nicht mehr.

Die Eltern der anderen vier Kinder hätten allerdings „nicht verstanden“, warum es Vorwürfe gegen ihn gebe. Auch die beiden Mütter, die den Tagesvater verklagt haben, sagten vor Gericht, dass sich die anderen Eltern eher „geärgert“ hätten, dass die Einrichtung schließen müsse. Mit den meisten Eltern sprachen sie danach nicht mehr, weitere Anzeigen gab es nicht.

Nur zu einer Mutter hatten die beiden Kontakt – jener Frau, die sie damals über den freien Platz informiert hatte. Sie hatte eine Tochter in der Einrichtung. Und auf Nachfrage hatte sie den beiden Müttern auch gesagt, dass sie einmal eine Art Quetschung am Arm ihrer Tochter gesehen hatte, ganz am Anfang während der Eingewöhnung, vielleicht eine Bisswunde. Und daraufhin habe sie ihre Tochter in den Tagen danach auch mehrmals sehr genau untersucht, aber nie wieder etwas gefunden.

Weitere Mutter: „Meine Tochter hat sich in Einrichtung immer wohlgefühlt“

Diese Dinge sind durch eine WhatsApp-Sprachnachricht dokumentiert. Die Frau wiederholte das auch als Zeugin vor Gericht. Dort machte sie auch sehr klar, dass aus ihrer Sicht nichts je wirklich verdächtig an dem Tagesvater war. Ihre Tochter habe sich dort „immer wohlgefühlt“, die Anzeige sei für sie überraschend gekommen. Sie habe die Einrichtung damals empfohlen. Ob sie das auch heute noch tun würde? „Ja“, lautete die Antwort.

Mehr aus dem Amtsgericht

Ob denn wiederum eine der beiden Mütter des damals 13 Monate alten Kindes vielleicht eine „kurze Lunte“ habe, vielleicht ihrer Aufgabe nicht immer gewachsen sei, wollte der anwesende Rechtsmediziner wissen. Er fragte das die beiden Mütter selbst, aber auch die Freundin der beiden – jene Erzieherin, die an dem fraglichen Wochenende auch die blauen Flecken beim Kind gesehen hatte. Die wiederum wies solche Verdachtsmomente weit von sich. Die beiden seien sehr gute Mütter, hätten „sehr viel“ Geduld, könnten auch lautes und längeres Schreien „sehr, sehr gut aushalten“, sagte sie lachend.

Dem Kind, heute zweieinhalb Jahre alt, geht es gut, heißt es

Sicher ist bisher nur eines: Der mittlerweile zweieinhalb Jahre alte Junge, dem es nach Aussage der Mütter gutgeht und der jetzt in einer anderen Krippe ist, hatte damals „untypische“ Verletzungen, die kaum durch Stürze beim Laufenlernen gekommen sein können. Das stellte am ersten Prozesstag der Gerichtsmediziner klar. Und: Die blauen Flecken hat sehr wahrscheinlich „ein Erwachsener“ dem Kind zugefügt.

Der Prozess wird am Montag fortgesetzt.