Henstedt-Ulzburg/Kiel. Gutachter bezeichnet Auftreten des 23-Jährigen als „jugendtypisches Machogehabe“ und sieht bei ihm „Reifeverzögerung“.
Im Prozess um versuchten Totschlag durch eine Auto-Attacke auf Teilnehmende einer Anti-AfD-Kundgebung in Henstedt-Ulzburg hat ein Sozialpädagoge der Jugendgerichtshilfe dem heute 23-jährigen Fahrer eine positive Sozialprognose bescheinigt. Bei dem zur Tatzeit 19-Jährigen sah er damals wie heute „keine schädlichen Neigungen“.
Diese sind – neben der Schwere der Schuld – gesetzliche Voraussetzungen für die Verhängung von Jugendstrafen als härtester Sanktion im Jugendrecht. Der Sozialpädagoge Ralf Keller, der sich auf eine fast 40-jährige Erfahrung mit der Betreuung straffälliger Jugendlicher beruft, sieht beim Angeklagten deutliche Reifeverzögerung.
Sozialpädagoge sieht keinerlei Bemühungen um Abnabelung vom Elternhaus
Zur Tat und politischen Einstellung habe sich der Angeklagte ihm gegenüber nicht geäußert, sagte Keller am Donnerstag im Kieler Landgericht. Er glaube jedoch nicht, dass der 23-Jährige erneut straffällig werde. Im provozierenden Auftreten des damaligen AfD-Mitglieds und seiner drei Begleiter von der WhatsApp-Gruppe „Ortskontrollfahrt“ am Bürgerhaus in Henstedt-Ulzburg sieht Keller „jugendtypisches Machogehabe“.
Bemühungen um Abnabelung von seinem mittelständischen Elternhaus in dörflicher Umgebung kann der Sozialpädagoge bei dem 23-Jährigen bisher „nicht ansatzweise erkennen“. Die Tat und ihre Folgen hätten ihn auf dem Weg zu mehr Selbständigkeit eher zurückgeworfen. Seit dem Verlust seines Führerscheins werde der nicht vorbestrafte Lagerist täglich von der Mutter oder vom Vater zur Arbeit gefahren. Zur Auflösung dieser Abhängigkeit riet Keller zur Rückgabe der Fahrerlaubnis.
Angeklagter zeigt Anzeichen von Rückzug und Depression
Der Angeklagte mit dem „fast zu glatten Lebenslauf“ habe seinen disziplinierten Arbeitsalltag strikt geregelt. Frühes Aufstehen um 4.15 Uhr, Arbeitsbeginn um 6, nach Feierabend ins Fitnessstudio. Bettruhe ab 20 Uhr. Von seinem Nettoverdienst gebe er monatlich 200 Euro ab. Den Rest spare er für einen Auszug von zuhause.
Im Moment brauche der Angeklagte noch den Rückhalt seiner Familie, so Keller. Nach dem langen Strafverfahren und drei Jahren Ungewissheit über die Zukunft fürchtet Keller, „dass er nach dem Urteil in eine Art Loch fällt“. Er zeige bereits Anzeichen von Rückzug und Depression. Ihn belaste, dass er Leid ausgelöst habe, im Fokus der Öffentlichkeit stehe und als Nazi angesehen werde. „Das bin ich nicht“, habe er betont.
Nebenkläger fordern bis zu 6000 Euro Schmerzensgeld für die Verletzten
Als Bewährungsauflagen empfiehlt der Jugendgerichtshelfer schützende Begleitung durch einen Betreuer und engmaschige Gespräche zur Aufarbeitung des Geschehens. Auch eine Geldauflage mache Sinn. Vor Kellers Bericht hatten die Anwälte der Nebenklage Schmerzensgeld für drei Opfer der Autoattacke gefordert, je nach Schwere der Verletzungen zwischen 1000 und 6000 Euro.
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Die Nebenklage fordert zudem die Begleichung sämtlicher auch künftiger materieller und immaterieller Schäden, die der Angeklagte mit seiner vorsätzlichen Tat am Steuer des tonnenschweren Pickups verursacht habe. Ihn machen die Anwälte für das Scheitern der Karrieren von zwei dauerhaft psychisch und körperlich malträtierten Tatopfern verantwortlich.
Verteidiger fordert Unterbrechung: Plädoyers auf 5. Dezember verschoben
Das will Verteidiger Jens Hummel so nicht stehen lassen. Um die Anträge mit seinem Mandanten besprechen und darauf reagieren zu können, forderte der Rechtsanwalt eine Sitzungsunterbrechung. Die Jugendkammer vertagte sich deshalb vorzeitig und verschob das für Donnerstag angekündigte Plädoyer des Staatsanwalts auf den 5. Dezember.
Dann sollen auch die Anwälte der Nebenkläger und der Verteidiger ihre Schlussvorträge halten. Das Urteil könnte am 11. Dezember verkündet werden.