Kiel/Henstedt-Ulzburg. Landgericht Kiel: Fahrer des Pick-up wird zu seinem Privatleben befragt. Haben Staatsanwaltschaft und Nebenklage neue Beweise?
„Wie sehen sie sich selbst? Was sind sie für ein Typ?“, fragt die Vorsitzende Richterin den Angeklagten, der vor drei Jahren als AfD-Mitglied am Steuer seines Pick-ups eine Autoattacke auf linke Gegendemonstrierende verübt haben soll. Wie berichtet, räumte der unter anderem wegen versuchten Totschlags angeklagte 22-Jährige die Tat zu Prozessbeginn im Kern ein. Demnach saß der damals 19-Jährige am Steuer eines VW Amarok und fuhr auf dem Gehweg an der Beckersbergstraße in Henstedt-Ulzburg mehrere Personen an. Dies geschah kurz nach Ende einer AfD-Veranstaltung im Bürgerhaus.
Nun wurde er ein zweites Mal im Landgericht Kiel befragt. Nach eigener Darstellung erlebte der Angeklagte eine ungewöhnlich behütete Kindheit in einer Großfamilie auf dem Lande. Bis heute wohnt er mit Eltern, Großeltern und Urgroßeltern unter einem Dach. In dem 300-Seelen-Dorf bei Bad Bramstedt werde er auch die nächsten Jahre bleiben, zitiert er einen „Wunsch meiner Mutter“.
Ehemaliges AfD-Mitglied: Landgericht befragt Angeklagten zu Privatleben
Das einzige Kind, der einzige Enkel: Bis heute wird der Angeklagte zwei Mal täglich warm bekocht und hat selbst „keine festen Aufgaben im Haushalt“. Die Oma bringt ihm „oft Süßigkeiten“. Für kleine Fluchten machte der Realschüler (Abschluss: „befriedigend“) schon mit 16 den Führerschein für begleitetes Fahren. Seit er 18 ist, fährt er alleine los, zum sicheren Ausbildungs- und Arbeitsplatz in der Lagerlogistik und anschließend fast täglich ins Fitnessstudio.
„Herumfahren“ wurde sein erstes Hobby. Mit dem Motorrad oder dem Allrad-Kraftpaket auf Rädern – der mutmaßlichen Tatwaffe, die sich der Angeklagte mit seiner Mutter teilt. „Ortskontrollfahrt“ hieß seine WhatsApp-Gruppe, die sich am Tattag zum „Zeckenglotzen“ verabredete. Aus den Chats sind zahlreiche rechtsradikale Inhalte bekanntgeworden.
Seine Softair-Waffen liegen unbenutzt im Schrank
Heute pflegt der Angeklagten nach eigenen Worten gute und regelmäßige Kontakte zu Freunden und Arbeitskollegen. Er setze auf Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit. Seine Softair-Waffen, sagt er, lägen längst unbenutzt im Schrank. Seit zwei Jahren habe er eine feste Freundin. Das Gericht wird sie noch als Zeugin vernehmen.
Mit „Zecken“ meinte er im Oktober 2020 Antifa-Demonstranten, die man anlässlich der AfD-Veranstaltung im Bürgerhaus von Henstedt-Ulzburg erwartete. Der Auslöser seiner lebensgefährlichen Fahrt mit dem tonnenschweren VW Amarok, bei der vier Menschen angefahren und teilweise erheblich verletzt wurden, ist auch nach 14 Verhandlungstagen noch nicht zweifelsfrei geklärt.
Nebenklage beschreibt Aussagen der damaligen Begleiter als unglaubhaft
Der Angeklagte will damals auf einen tätlichen Angriff der Antifa, die einen seiner drei Neonazi-Begleiter verprügelt hätten, „falsch reagiert“ haben. „Ich habe gedacht, die schlagen ihn gleich tot“, hatte er beim Prozessauftakt im Juli erklärt. Seine damaligen Begleiter, darunter das angebliche Opfer eines Antifa-Angriffs, bestätigten vorausgegangene Tätlichkeiten nur unkonkret, widersprüchlich und lückenhaft. Für den Rechtsanwalt der Nebenkläger, Björn Eberling, sind die Aussagen, die den Angeklagten entlasten sollten, unglaubhaft.
„Wir haben da Scheiße gebaut“, hatte ein damaliger Kumpel des Angeklagten bekannt. Dass sich der Zeuge miteinbezog, ist laut Eberling Ausdruck seiner Zwickmühle zwischen Distanzierung von der Tat und Loyalität zum Angeklagten.
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Zur Klärung der Widersprüche will Staatsanwalt Lorenz Frahm neues Beweismaterial erörtern. So habe einer der drei Begleiter des Angeklagten laut Handyauswertung kurz nach der Tat mit einem Freund telefoniert. Und diesem wahrscheinlich berichtet, was da soeben passierte. Der Adressat des Anrufs lasse sich leicht ermitteln, so der Staatsanwalt.
Staatsanwaltschaft: Neue Beweise durch Handyauswertung? Verteidigung fordert Transparenz
Darüber hinaus hat die Nebenklage angekündigt, weitere Beweismittel zu beschaffen. Weil die Anwälte bisher offenließen, worum es dabei geht, forderte Verteidiger Jens Hummel gestern mehr Transparenz für ein faires Verfahren. Weitere Fragen zur Sache an seinen Mandanten will er erst zulassen, wenn er sich auf die angekündigten Beweise einstellen kann.
Auch die Jugendstrafkammer sieht noch Aufklärungsbedarf: Zu den bisher angesetzten 14 Verhandlungstagen terminierte sie sieben weitere Sitzungen bis Mitte Dezember. Nach der ursprünglichen Planung wäre der Prozess gestern beendet worden. Doch auch die Sachverständigen und die Jugendgerichtshilfe müssen noch ihre Gutachten erstatten.