Kiel. Opfer wird intensiv vernommen. Der Erzieher beteuert, nicht zugeschlagen zu haben. Er selbst leidet sehr an den Folgen der Tat.
Nichts käme der Verteidigung im Prozess um die mutmaßliche Auto-Attacke eines AfD-Mitglieds auf Gegendemonstranten in Henstedt-Ulzburg gelegener als ein vorausgegangener Angriff auf den heute 22 Jahre alten Angeklagten aus Föhrden-Barl oder seine drei Begleiter. Doch auch der achte Verhandlungstag im Kieler Landgericht erbrachte am Mittwoch keine Hinweise auf eine Gewalttat, auf die der Amarok-Fahrer „falsch reagiert“ haben will.
Der Beifahrer des Angeklagten war am vorletzten Verhandlungstag in die Offensive gegangen, hatte einen der vier Nebenkläger als angeblichen Antifa-Schläger belastet. Der Zeuge, der zur Tatzeit hinter dem Beschuldigten auf dem Rücksitz des tonnenschweren Pickup saß, hatte sich während seiner Zeugenvernehmung zur Bank der Nebenkläger umgedreht und auf einen 47 Jahre alten Erzieher gezeigt. Ihn, so behauptete der AfD-Anhänger (21), erkenne er als einen der Schläger wieder, die unmittelbar zuvor seinen Kumpel P. verprügelt hätten.
Henstedt-Ulzburg: Prozess gegen AfD-Mitglied – kein Indiz für Antifa-Angriff
Dieser Vorwurf führte zu einer besonders intensiven Befragung des vierten, bisher noch nicht gehörten Nebenklägers. Die Vorsitzende der Jugendkammer, Maja Brommann, belehrte den Teilnehmer der Anti-AfD-Kundgebung vom 17. Oktober 2020 nicht nur ausführlich über seine Wahrheitspflicht. Sie erklärte auch, er brauche sich in seiner Aussage nicht selbst zu belasten.
Der Rechtsanwalt des 47-Jährigen, Alexander Hoffmann, teilte umgehend mit, sein Mandant werde sämtliche Fragen beantworten. Der Nebenkläger, der nach eigenen Angaben seit dem traumatisierenden Vorfall wegen massiver Rückenschmerzen arbeitsunfähig krank ist, ist das vierte Opfer, das zur Sache aussagt.
Opfer erkannte sofort die Gefahr, als der VW Pickup auf den Gehweg einlenkte
Ähnlich wie die drei bereits seit Anfang Juli vernommenen Tatopfer schilderte auch dieser Zeuge den Hintergrund seiner Teilnahme an der Protestveranstaltung. Mit einem Bekannten habe er schließlich das Gelände am Bürgerhaus auf der Suche nach etwas zu trinken verlassen. Den Angeklagten und seine drei Begleiter habe er erst kurz vor Erreichen des Tatorts wahrgenommen, jedoch nicht politisch eingeordnet.
Trotzdem will er sofort die besondere Gefahr erkannt haben, als der wegen versuchten Totschlags Angeklagte den tonnenschweren VW Amarok auf den Bürgersteig lenkte. Wie berichtet, stellte der Fahrer die Tat als unmittelbare Reaktion auf einen angeblichen Angriff dunkel gekleideter Verfolger auf einen seiner Freunde dar.
Richterin: „Haben Sie Herrn P. geschlagen?“ – „Nein.“
„Ich habe gedacht, die schlagen ihn gleich tot“, hatte der Angeklagte zu Prozessbeginn erklärt. Nach dem Vorwurf des Beifahrers fragt die Vorsitzende Maja Brommann den Nebenkläger ganz direkt: „Haben Sie Herrn P. geschlagen?“ „Hat Ihr Begleiter Herrn P. geschlagen?“ Und: „Könnte sonst jemand dort Herrn P. geschlagen haben?“ Die Antwort lautet jeweils „Nein.“
Den ganzen Vormittag befragen die drei Berufsrichterinnen der Jugendkammer den Zeugen eindringlich nach jeder Bewegung auf dem Gelände, nach seinen Beobachtungen und Rückschlüssen. Ergebnis: Auch der Abgleich mit früheren Aussagen bei der Polizei ergibt keine ersichtlichen Widersprüche. „Wie erklären Sie sich die belastende Aussage des Beifahrers?“, fragt schließlich eine Richterin. „Er sucht wohl etwas, um seinen Freund zu schützen“, meint der Zeuge.
Verteidiger des Angeklagten befragt den Nebenkläger intensiv
Schließlich hat Strafverteidiger Jens Hummel das Fragerecht. Auch er befragt das vom Beifahrer seines Mandanten ins Zwielicht gerückte Tatopfer intensiv zu den Abläufen vor Ort, zur Vor- und Nachgeschichte der Autoattacke und zu seinen Wahrnehmungen.
Der Rechtsanwalt lotet mal den Hintergrund eines Warnschusses der Polizei aus, mal die allgemeine Stimmungslage der Beteiligten nach der Tat, findet aber keinen Ansatzpunkt zur Erhärtung des vorgebrachten Verdachts. Indizien oder objektive Beweismittel für Schläge gegen den Zeugen P. wie etwa die mögliche Dokumentation von Verletzungen führt der Verteidiger nicht an.
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So bleibt vom achten Prozesstag der Eindruck eines Tatopfers, das noch fast drei Jahre nach dem Aufprall des Pickups massiv unter den Folgen leidet. Der Nebenkläger hatte zuvor 13 Jahre lang in Vollzeit Grundschüler in Elmshorn betreut. Heute spricht er von Schlafstörungen, Kopfschmerzen und täglichen Rückenschmerzen, die ihn völlig außer Gefecht gesetzt hätten.
Prozess Henstedt-Ulzburg: Körperliche Folgen machten Lebensplan des Opfers zunichte
Die Einschränkungen, sagt er, hätten seinen Lebensplan zunichte gemacht, sich mit dem Kauf eines Resthofs als Therapieeinrichtung für eine Wohngruppe selbstständig zu machen. Auf Nachfrage des Verteidigers kündigt die Vorsitzende an, es werde noch ein schriftliches Gutachten zu den geschilderten Verletzungen nachgereicht.
Am Prozess nimmt auch ein medizinischer Sachverständiger teil. Dessen Nachfragen wurden gestern zurückgestellt. Der Zeuge P., der damals durch Schläge verletzt worden sein will, ist erst für Ende September geladen. Die Kammer hat bis Mitte Oktober mindestens sieben weitere Verhandlungstage eingeplant.