Norderstedt. Einschusslöcher und Schrapnell-Spuren: Verein macht Krankenwagen zum Mahnmal für Kriegsgräuel. Wie die Menschen reagierten.
Wenn der ramponierte Krankenwagen vor der Post in Norderstedt-Mitte erzählen könnte – aber er parkt einfach nur inmitten des Norderstedter Alltags. Und doch spricht das, was Passanten sehen, die hier neugierig näher kommen, eine deutliche Sprache. Sie erzählt von den Kriegs-Gräueln in der Ukraine.
An der Rathausallee steht am Freitag ein beschossener, zerstörter Rettungswagen. Dieser wurde im März 2022, kurz nach dem Beginn des russischen Angriffs auf das osteuropäische Land, in der Region um Charkiw von den russischen Invasoren attackiert. Davon zeugen die vielen Einschusslöcher, die kaputten Scheiben, die Scherben auf der Ladefläche des „UAZ Buchanka“, eine Art russischen Bullis.
Das demolierte Wrack ist ein stummer Zeuge dessen, was in der Ukraine geschehen ist seit Frühjahr 2022, und was dort weiterhin täglich geschieht. Im Prinzip ist die Zeit für den Rettungswagen stehen geblieben, und zwar seit dem 12. März im letzten Jahr. „Der Rettungswagen kommt aus der Region Charkiw mit ungefähr 1,5 Millionen Einwohnern, dort wiederum aus dem Vorort Derhatschi. Eigentlich war er schon außer Dienst gestellt, aber als dann der Angriff kam, brauchte man alles, was noch fuhr“, berichtet Thomas Zervos.
Norderstedt: So kam der zerschossene Krankenwagen in die Stadt
Der Norderstedter ist Vorsitzender des bundesweit organisierten Vereins Fellas for Europe. „Wir liefern viel humanitäre Unterstützung, machen aber auch Aufklärung und politische Arbeit. Und dazu gehört dieses Projekt. Wir sind mit diesem Wagen in Deutschland unterwegs.“
Rund um Charkiw, nur 40 Kilometer von Russland entfernt, war nichts und niemand sicher. „Die Menschen haben den Krieg vom ersten Tag mitbekommen. Es war egal, was auf einer Straße fuhr. Und es wurden auch zivile Einrichtungen beschossen, ganz konkret am 12. März das Krankenhaus in der Derhatschi, was an sich schon ein Kriegsverbrechen ist. Das Grausame daran: Es ist mit Streumunition erfolgt, die darauf ausgelegt ist, möglichst viele Menschen zu töten.“
Angriff mit Streumunition: „Ein Beweisstück für Kriegsverbrechen“
Auch der Rettungswagen geriet in den Angriff. „Der Fahrer wurde schwer verletzt – all diese Löcher, die wir sehen, sind Treffer von Tausenden Schrapnellen. Es ist ein Beweisstück für Kriegsverbrechen, das ist die Realität, die dort passiert. Vieles, was über soziale Medien an Propaganda verbreitet wird, stimmt nicht.“
Norderstedt ist die erste Stadt, die das Projekt aktiv unterstützt – in Berlin, München und Hamburg war alles privat arrangiert. Oberbürgermeisterin Elke Christina Roeder schaut sich den Rettungswagen selbst an, spricht mit Zervos und dem Verein, der rund um den Platz Bilder zerbombter Städte zeigt und Spenden für neue Krankenwagen sammelt. „Peter Holle hatte uns angetickert, ob die Möglichkeit besteht, dass wir der Organisation helfen. Wir haben sofort gesagt: Selbstverständlich, das bekommen wir hin.“
Holle ist CDU-Fraktionschef, seine Frau ist Ukrainerin, die Familie hat wiederholt Menschen aus dem Land bei sich aufgenommen. „Meine Frau hat in der Zeitung von dem Projekt gelesen. Ich habe den Kontakt zu Frau Roeder hergestellt, und sie hat gleich gesagt: Machen wir.“ Was er empfindet beim Anblick des Rettungswagens? „Der Krieg ist so nah, aber doch für viele weit weg. Wir werden ja das ganze Jahr mit Bildern geflutet, stumpfen ab. Ich kann nur sagen: Guckt euch das an. Es ist keine Militäroperation, es ist Mord, was da geschieht.“
Viele Hundert Menschen aus der Ukraine leben seit Frühjahr 2022 in Norderstedt
Die Oberbürgermeisterin sagt, es sei „wichtig, dass mit solchen Aktionen darauf aufmerksam gemacht wird, wie schrecklich dieser Krieg ist.“ Denn: „Wir sehen die Bilder immer in den Nachrichten, ich habe aber das Gefühl, dass wir uns daran gewöhnen. So etwas hier ist dann doch beeindruckend, um aufmerksam zu machen. Denn Krieg ist keine Normalität.“
Viele Hundert Menschen aus der Ukraine sind seit Februar 2022 nach Norderstedt gekommen, leben zum Teil in Unterkünften der Stadt, oder sind privat untergekommen. Roeder: „Wir haben sehr viele dankbare Menschen kennengelernt, die es sehr zu schätzen wissen, wie wir als Norderstedt helfen. Die Hilfsbereitschaft ist weiterhin sehr groß. Aber es ist schwierig – stellen wir uns mal vor, wir könnten eineinhalb Jahre nicht in unsere Heimat zurück, weil dort Krieg herrscht. Den Gedanken wird man nicht los.“
„Ich fühle die Tragik, wenn ich das sehe“
Eine Ukrainerin blickt vor der Post auf die Menschen und das Ausstellungsstück. Seit März 2022 ist sie mit ihren zwei Kindern in Norderstedt, untergekommen bei einer deutschen Familie, berichtet sie – der Mann ist in Kiew geblieben, wie auch weitere Familienangehörige. „Ich fühle die Tragik, wenn ich das sehe, es ist sehr schwer“, sagt die Frau mit Blick auf das Fahrzeug. „Nachts fliegen in Kiew die Raketen, die Drohnen.“ Ein Kontrast zu Norderstedt. „Hier ist es sehr schön, wir haben viele Freunde. Aber wir denken jeden Tag an die Menschen in der Ukraine.“
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Auch eine Familie aus Ellerau ist vorbeigekommen. „Meine Frau hatte auf dem Heimweg einen Flyer bekommen und mir davon erzählt. Und da wir in der Nähe waren, sind wir noch mal hingefahren“, sagt der Vater – das Paar ist mit den beiden Kindern hier. Mit denen reden die Eltern auch über das Geschehen in der Ukraine.
Rettungswagen: Von Norderstedt bis zum Internationalen Gerichtshof in Den Haag
„Das lässt sich nicht vermeiden. Es ist herausfordernd, keine Ängst zu produzieren, kindgerecht über dieses Thema zu sprechen. Der Krieg ist bei uns zu Hause noch sehr präsent. Das hier untermauert das Ganze noch einmal, damit das nicht in Vergessenheit gerät und irgendwie abschwächt. Als Mahnmal finde ich es sinnvoll.“
Thomas Zervos und Fellas for Europe werden weiterziehen mit ihrer Mission. „Wir fahren auch noch nach Brüssel – Ursula von der Leyen wird hier wahrscheinlich auch noch einmal danebenstehen. „Eine unserer Etappen wird den Den Haag sein“, sagt Zervos. Dort befindet sich der Internationale Gerichtshof – dort, so hoffen viele, werden sich irgendwann Wladimir Putin und die russische Regierung verantworten müssen.