Kiel. Ein Mann fährt Demonstrierende an. Ein Opfer spricht vor Gericht über die Tat in Henstedt-Ulzburg und über die tragischen Folgen.
Es handelte sich nur um wenige Sekunden – die aber schwerwiegende Konsequenzen hatten und weiterhin haben. Am dritten Verhandlungstag vor dem Landgericht Kiel hat erstmals ein Betroffener darüber gesprochen, was aus Sicht der Opfer am 17. Oktober 2020 nahe des Bürgerhauses in Henstedt-Ulzburg passiert ist. Fest steht: Ein heute 22-Jähriger aus Föhrden-Barl, saß am Steuer eines VW Amarok, als das Fahrzeug auf dem Gehweg an der Beckersbergstraße kurz nach einer AfD-Veranstaltung in mehrere Gegendemonstranten fuhr.
Der unter anderem wegen versuchten Totschlags angeklagte Mann war Anfang Juli beim Prozessbeginn umfangreich befragt worden und hatte dabei eine deutliche Nähe zum Rechtsextremismus offenbart – und auch seine kurz nach dem mutmaßlichen Angriff beendete AfD-Mitgliedschaft bestätigt. Ebenso schilderte er die Ereignisse aus seiner Sicht, sprach von einer versuchten „Abschreckung“, zeigte aber auch Erinnerungslücken. Nun ging es darum, eine andere Perspektive zu bekommen.
Henstedt-Ulzburg: Brisanter Prozess um mutmaßlichen Angriff mit VW Pick-up
Im Zeugenstand sitzt ein 29-Jähriger aus Elmshorn, der auch Nebenkläger ist. Er studiert eigentlich Soziologie, hat dies nicht mehr abschließen können. Er ist heute als Werkstudent in der Ehrenamtskoordination tätig. In Henstedt-Ulzburg war er, weil er dem Aufruf einer Gewerkschaft gefolgt war, sich der Kundgebung des lokalen Bündnisses gegen die AfD anzuschließen.
Ihn begleitete seine damalige Freundin, die in Henstedt-Ulzburg angefahren und schwer verletzt wurde. Auch sie wird zu einem späteren Zeitpunkt aussagen. „Mir und meiner damaligen Partnerin fielen vier Personen auf, die wieder weggeschickt worden sind.“ Und zwar zunächst von der Polizei. „Die sind auf unserer Kundgebung aufgetaucht, haben sich auf eine Bank gesetzt, uns angestarrt“, sagt er.
Zeuge und Freundin folgten Gruppe, die von der Kundgebung verwiesen wurde
Warum sie aufgefallen waren, kann er nicht genau beschreiben – es sei das Auftreten als geschlossene Gruppe gewesen. Der Angeklagte habe Springerstiefel getragen und eine schwarze Cargohose, ein anderer „irgendwas mit Sniper“. Politisch zuordnen konnte er das vor Ort nicht.
Dann wurde die Gruppe um den Angeklagten ein weiteres Mal gebeten, zu gehen, diesmal von der Anmelderin der Demo. Der Zeuge und seine Freundin folgten ihnen. „Wir wollten gucken, ob sie nicht einen anderen Weg auf die Veranstaltung nehmen.“
„Dann wurde durchbeschleunigt, ich habe den Motor aufheulen hören“
Vielmehr gingen die jungen Männer zu zwei Autos, teilten sich dort auf. „Der Angeklagte ist zur Fahrerseite gegangen“, so der Zeuge. „Für mich war die Situation beendet. Ich dachte, dass die nach Hause fahren.“ Im nächsten Moment rollte der mit Außenspiegeln 2,21 Meter breite Amarok auf den Fußweg. „Der passte gerade so rauf. Dann wurde durchbeschleunigt, ich habe den Motor aufheulen hören und gesehen, dass eine Person getroffen und zur Seite geschleudert wurde.“
Gas gegeben habe der Fahrer erst auf dem Gehweg. Der Zeuge war da nach eigener Einschätzung rund 100 Meter entfernt – auf halber Strecke wurden die ersten Personen von dem Pick-Up getroffen. „Er ist sehr, sehr schnell gefahren, hat kein Mal gestoppt.“ Das Tempo schätzt er auf „30 bis 40 km/h“. Was er da dachte? „Dass er uns töten wollte. Ich hatte das nicht kommen sehen. Daneben war die Straße, er hätte einfach wegfahren können.“
Er sah, wie ihr Körper „hinter dem VW auf den Boden fiel“
Mit belegter Stimme fährt er fort. Er selbst sei zur Seite gesprungen, suchte Schutz zwischen zwei Autos. Auf Nachfrage der Vorsitzenden Richterin Maja Brommann bestätigt der Mann, dass er eine Lenkbewegung wahrgenommen habe. Seine Freundin sei „nicht mehr rausgekommen“, sagt er. „sie ist einfach stehen geblieben, hat sich nicht bewegt“.
Dann begann sie zu laufen, aber nur wenige Meter, wurde dann „frontal getroffen“, Er sah, wie ihr Körper „hinter dem VW auf den Boden fiel“. Auch ein „Krachen“ habe er gehört, möglicherweise das Abbrechen des Seitenspiegels. „Ich dachte sofort, sie ist tot, als ich sie da liegen sah.“
Ein Begleiter des Angeklagten entschuldigt sich vor Ort
Eine Polizistin sei gekommen, „sie wollte direkt eine Aussage. Ich habe gesagt: Wir brauchen einen Krankenwagen.“ Währenddessen kam eine Person aus dem zweiten Fahrzeug zu dem Paar. „Er hat sich die ganze Zeit entschuldigt.“
Und der Angeklagte? „Ich habe ihn am Lenkrad sitzend gesehen, den Blick nach vorn gerichtet.“ Der Fahrer sei derjenige, der jetzt im Gerichtssaal zwei Meter neben ihm sitze. „Hundertprozentig“, nur die Haare seien kürzer gewesen.
Das Paar trennte sich wenige Monate nach der Tat
Mehrfach betont der Zeuge: Er und seine Partnerin hätten die Männer nicht verfolgt, darunter verstehe er etwas anderes. Der Angeklagte hatte so etwas ausgesagt und auch, dass es einen tätlichen Angriff gegeben habe. Auch das kann der 29-Jährige nicht bestätigen. Auch die Frage, ob er Antifa-Mitglieder oder Fahnen vor Ort gesehen habe, kann er nicht beantworten. Es „mag angehen“. Von den Aufklebern mit rechtsradikalen Botschaften, die von der Gruppe um den Angeklagten verteilt worden seien, habe er erst im Nachgang gehört.
Die persönlichen Nachwirkungen waren für das Paar schwerwiegend. „Ich habe mich in den Monaten danach um sie gekümmert, ihr Socken angezogen, weil sie es nicht konnte.“ Mitte 2021 habe man sich getrennt. Er habe sich Vorwürfe gemacht, dass er sie nicht schützen konnte – „und sie hat mir einen Teil der Schuld gegeben“. Denn es war seine Initiative gewesen, zu beobachten, wohin die Gruppe um den Angeklagten gehen würde.
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Um sein Soziologiestudium abzuschließen, hätte ihm nur noch ein Seminar gefehlt. Doch er leidet an einer Posttraumatischen Belastungsstörung, hat Verfolgungsängste und Konzentrationsschwierigkeiten. Die Richterin liest hierzu den aktuellen Bericht eines Psychologen vor. Sein Trauma verstärke sich beispielsweise, wenn er Fahrzeuge des Typs VW Amarok sehe, er spricht von „Triggermomenten“. Auch der Gerichtsprozess ist für ihn eine Belastung, er benötigt weiterhin therapeutische Begleitung.
Prozess: Richterin äußert Zweifel an Aussagen des Angeklagten zu rechten Positionen
Der Angeklagte verfolgt all das regungslos, während sein Anwalt Jens Hummel zahlreiche Detailfragen stellt – insbesondere dazu, was der Zeuge genau aus welcher Position gesehen hat. Auf den Meter genau lässt sich das fast drei Jahre später wohl kaum noch sagen, wird hier deutlich.
Richterin Maja Brommann gibt dem Beschuldigten und seinem Rechtsbeistand eine nachdrückliche Ermahnung mit auf den Weg. „Man könnte die Auffassung vertreten, dass Ihre Erinnerungslücke möglicherweise schwer nachvollziehbar ist.“ Und: „Ihre Einlassungen zu Positionen der AfD, zu Symbolen der rechten Gesinnung stehen im Widerspruch zur Aktenlage und zur Handyauswertung.“ Es könnte der Eindruck entstehen, dass er etwas relativieren wolle.
Die Botschaft: Der Angeklagte solle sich genau überlegen, ob er seine Aussage nicht noch ergänzen solle. Dessen Rechtsanwalt versprach, dass man sich beraten wolle.