Bad Segeberg. 70. Karl-May-Saison feiert mit „Winnetou I - Blutsbrüder“ eine bewegende Premiere. Das Stück endet mit einer Überraschung.
Bei Manitu! Besser geht es kaum! Mit einer bewegenden Premiere von „Winnetou I – Blutsbrüder“ sind die Karl-May-Spiele in Bad Segeberg in die 70. Spielsaison gestartet – mit Alexander Klaws als Winnetou, Wolfgang Bahro als Erzschurke Santer und Nadine Menz als Winnetous Schwester Nscho-tschi. Es sei eins der ergreifendsten und berührendsten Stücke, so Karl-May-Chefin Ute Thienel zur Begrüßung der 7500 Gäste in der ausverkauften Kalkberg-Arena.
Angesichts der Diskussion um kulturelle Aneignung sagte Thienel: „Wer die Karl-May-Spiele wirklich kennt, darf nicht auf die Idee kommen, uns kulturelle Aneignung, Rassismus oder mangelnden Respekt vorzuwerfen.“ Schließlich habe schon Winnetou gesagt: „Schaut auf die Farbe der Herzen und nicht auf die Farbe der Haut.“ Es war 20.47 als Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther zum Gewehr griff, um den Eröffnungsschuss zu geben. „Keine Sorge, heute singe ich nicht“, sagte er angesichts der Kritik an seinem Auftritt bei der Kieler Woche, wo er den umstrittenen Partysong Layla mitgesungen hatte.
Bad Segeberg: Karl-May-Spiele – Daniel Günther gibt Eröffnungsschuss
Er spüre die Freude, die er früher als Kind hatte, wenn er zu den Karl-May-Spielen gefahren sei, heute noch genauso wie früher, sagte Günther und sprach von „Kindheitsgefühlen“. „Ich freue mich auf die nächsten 70 Jahre“, sagte Günther und gab um 20.51 Uhr den Startschuss für „Winnetou I – Blutsbrüder“. Das Stück - mit einem Etat von 6,3 Millionen Euro das Teuerste aller Zeiten – erzählt von den Anfängen von Winnetou und Old Shatterhand – übrigens eine rein fiktive Geschichte wie zu Beginn der Aufführung ausdrücklich betont wird.
Schauspieler Harald Wieczorek in der Rolle des Karl May reist in der ersten Szene im Jahr 1908 in den Wilden Westen und erinnert sich am Nugget-Tsil wie alles begann. „Sind Sie schon mal hier gewesen?“, fragt ihn der Kutscher.
„Nur in meiner Fantasie“, sagt Karl May. „Ich habe den Wilden Westen nie gesehen, kenne ihn aber besser als jeder andere. Weil ich ihn mir vorgestellt habe. Eine ganze Welt habe ich in meinen Träumen erschaffen. Genauso, wie den besten Freund, den ein Mensch sich wünschen kann“, so Wieczorek alias Karl May. Und noch während er die letzten Worte spricht, steigt dichter Nebel aus dem Boden und statt des alten Karl May steht er dort als junger Charly (dargestellt von Bastian Semm) und wir befinden uns im Jahr 1870 zur Zeit des großen Eisenbahnbaus. Autor Michael Stamp hat seit 17 Jahre von diesem Einstieg geträumt, doch erst jetzt passte die Szene zur Handlung und konnte eindrucksvoll in das Stück integriert werden.
Karl-May-Spiele: Gänsehautmomente bei Premiere von „Winnetou I - Blutsbrüder“
Es ist der erste Gänsehautmoment des Abends, viele weitere werden folgen. Denn das ist es, was die Karl-May-Spiel ausmacht: Dieses Gefühl, das einen überkommt. Überwältigender als bei jedem Film. Was VR und 3D nur vorgaukeln, ist hier echt. Man ist dabei, atmet den Staub der Arena ein, spürt den Wind auf der Haut und spürt die Hitze der Explosionen im Gesicht. Man ist hier mitten drinnen. Mit den Augen, mit den Ohren, dem Herzen. Hier, wenn Winnetou zur bekannten Titelmelodie von Martin Böttcher das erste Mal zwischen den Rängen hindurch galoppiert und Kindheitserinnerungen wach werden.
Wenn der Adler das erste Mal über die Köpfe der Zuschauer segelt und mystische Stimmung aufkommt. Wenn Gut und Böse vor dem stimmungsvoll angestrahlten Kalkberg gegeneinander kämpfen – und es anders ausgeht, als es sich die meisten Zuschauer wünschen würden. Es ist bereits das elfte Mal, dass „Winnetou I“ am Kalkberg aufgeführt wird – doch das Drehbuch wird jedes Mal neu geschrieben.
Auch wenn die Handlung leicht geändert wurde, Michael Stamp ist wieder einmal eine großartige, moderne Adaption eines Klassikers gelungen - mit augenzwinkernden Anspielungen, urkomischen Szenen und viel Wortwitz. Dafür verantwortlich ist unter anderem das Kleeblatt.
Karl-May-Spiele in Bad Segeberg: Mischung aus Action, Romantik und Komik
Da man nach bewährtem Muster auch eine oder mehrere lustige Figuren braucht, gibt es außer Sam Hawkens auch die beiden Westmänner Dick Stone und Will Parker, die gemeinsam ein Kleeblatt bilden. Einer ihrer Sprüche: „Einer für Alle, Alle für Einen. Und jetzt machen wir Alle alle.“ Die vermutlich lustigste Szene ist die, in der Stone und Parker die Befreiung von Sam Hawkens planen.
Während sie auf einem Stein sitzend zur Melodie des Hollywood-Streifen „Mission Impossible“ einen aberwitzigen Plan entwerfen, führen zwei Doubles die Rettung im Hintergrund aus. Sie rutschen eine Stange hinauf, schweben „elfengleich“ per Kran zum Zelt und hauen den Wachen die Rübe weg.
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Das klappt dann auch – beim ersten, zweiten oder auch erst dritten Mal. Eins der Erfolgsrezepte der Karl-May-Spiele ist „Die Melodie des Stückes“, wie sie es in Bad Segeberg nennen. Gemeint ist eine Mischung aus Action, Romantik und Komik. Da die Spiele mit den Kämpfen, Knallereien und Explosionen vor allem für Kinder sehr aufregend sind, sei es wichtig zwischendurch für Auflockerung zu sorgen, sagte Autor Michael Stamp im Vorfeld. Daher gebe es nach einer traurigen oder aufregenden Szene oft eine Lustige, in der die Angst weggelacht werden könne.
Für Wolfgang Bahro ist die Rolle des arroganten Fieslings ein Heimspiel
Selbst die Figur des Schurken Santer ist ein bisschen nach diesem Prinzip konzipiert. Denn auch wenn Schauspieler Wolfgang Bahro in der Rolle so richtig böse ist, er darf auch einen Gag nach dem anderen raushauen und Sätze sagen wie: „Der Scheck heiligt die Mittel“, „Nach all den schlechten Zeiten kommen endlich die guten Zeiten“ – in Anspielung auf seine Rolle des skrupellosen Anwaltes Jo Gerner in der Serie „Gute Zeiten, schlechte Zeiten.“
Für Bahro ist die Rolle des arroganten Fieslings ein Heimspiel, Böse liegt ihm einfach im Blut. Das wird bereits bei seinem ersten Auftritt klar, als er in einer Kutsche vorgefahren wird – mit süffisantem Lächeln und Zigarre im Mund. Gemeinsam mit Dustin Semmelrogge als brutalem Rattler bildet er ein Duo infernale. Die beiden überbieten sich regelrecht mit Boshaftigkeiten.
Alexander Klaws fungiert wieder einmal als guter Gegenspieler des Bösen. Doch auch wenn der Schauspieler in diesem Jahr zum dritten Mal die Rolle des Winnetou übernimmt – er darf den Apachen-Krieger erstmals auch anders verkörpern als gewohnt: Denn der junge Winnetou ist zorniger und wütender, als man ihn kennt.
Zuschauer kämpfen beim tragischen Ende einer jungen Liebe mit den Tränen
Klaws, der als erster Sieger von „Deutschland sucht den Superstar“ berühmt geworden ist, kommt vor allem in diesem Part absolut authentisch rüber und zeigt seinen Kritikern, wo der Tomahawk hängt. Winnetou zur Seite steht seine Schwester Nscho-tschi, die mit Nadine Menz großartig besetzt wurde. Sie kommt als stolze, starke und emanzipierte Frau daher. Oder, um es mit Winnetous Worten zu sagen: „Nscho-tschi ist so mutig wie der stärkste Krieger.“ Kein Wunder, dass Old Shatterhand sich in die Tochter des Häuptlings verliebt, nachdem diese ihn gesund gepflegt hat.
Als er ihr seine Liebe gesteht, klatschen und johlen die Zuschauer. Doch den beiden sind nur ein paar Minuten „Gute Zeiten“ vergönnt, dann brechen dank Schuft Santer „Schlechte Zeiten“ herein. Es heißt, dass bei dem tragischen Ende, das die junge Liebe nimmt, selbst der hartgesottene Falkner feuchte Augen haben soll – und auch einige Zuschauer stöhnen laut auf und kämpfen mit den Tränen, als Nscho-tschi - Achtung Spoiler! – „zu ihren Ahnen geht, hinauf zu den Sternen“. Als Nscho-Tschi stirbt, ist es ein paar Sekunden lang vollkommen still in der Arena. Alle sind betroffen und berührt.
Karl-May-Spiele: Alexander Klaws singt „You never walk alone“
Klingt nach dem Ende, ist aber der Anfang des fulminanten Finales, bei den Regisseur Nicolas König (der 30 Jahre lang Publikumsliebling war) und seine Crew alle Register gezogen haben: In schwindelerregender Höhe kommt es am mystisch angestrahltem Kalkberg zum Kampf zwischen Gut und Böse – zwischen Old Shatterhand und Winnetou sowie Santer und Rattler. Wer eben noch feuchte Augen hatte, bekommt jetzt schon beim Zuschauen feuchte Hände, als Old Shatterhand über dem Abgrund baumelt.
Mit einer Explosion, deren Wärme bis hinauf auf die Ränge zu spüren ist, geht das Finale zu Ende. Zu Ende: Nicht ganz. Denn wer Winnetou kennt, weiß, dass es zum Schluss immer noch weise Worte gibt. „Es ist einfach, einen Krieg zu beginnen. Aber so viel schwerer, ihn wieder zu beenden. Wir leben in düsteren Zeiten, Charly“, sagt Winnetou zu Old Shatterhand, doch die Zuschauer wissen ganz genau, dass damit nicht nur der Wilde Westen gemeint ist.
Und am Ende gibt es noch eine Überraschung: Nachdem Klaws im letzten Jahr Corona-bedingt nicht singen konnte, holte er es jetzt nach. Mit „You never walk alone.“