Norderstedt. Das SOS-Kinderdorf Harksheide wird 60. Eine Kinderdorfmutter und die elfjährige Mira berichten, warum es schön ist, hier zu leben.

In Miras Kinderzimmer im SOS-Kinderdorf Harksheide in Norderstedt herrscht eine hohe Promidichte: Weltfußballer Lionel Messi ist da. Auch die Rapper Dustin, Nele und Artur geben sich die Ehre – alle vereint als Poster an der Wand. Dass sie da hängen, hat seinen Grund, denn: Miras Leben ist bunt. Und das zeigt sie auch, nicht nur in ihrem Zimmer.

Mira spielt Fußball. Mira rappt. Mira macht Karate. Und später will sie mal Autoverkäuferin werden oder professionelle Fußballspielerin. Oder vielleicht doch lieber Ärztin, weil sie für Menschen da sein und ihnen helfen möchte, wenn die sie brauchen, erzählt Mira beim Rundgang durch ihr Kinderzimmer.

Wie wichtig das ist, hat sie selbst erfahren. Vor fünf Jahren floh Mira mit ihrer älteren Schwester und ihrer Mutter aus dem Irak. Die Mutter erkrankte während der Flucht seelisch so schwer, dass sie nicht mehr für Mira sorgen konnte. Im SOS-Kinderdorf Harksheide fand das Mädchen mit den langen dunklen Haaren schließlich ein neues liebevolles Zuhause.

Norderstedt: SOS-Kinderdorf – die Welt braucht Mütter wie Anke Mortschin

Hier lebt Mira mit Kinderdorfmutter Anke Mortschin, weiteren fünf Kinderdorfgeschwistern und Hund TJ. Was trägt Mira dazu bei, dass der Laden hier läuft? „Ich bin nett zu den anderen. Meckere nicht und zicke nicht rum.“ Auch im Haushalt zu helfen und ihr Zimmer aufzuräumen gehört für sie selbstverständlich dazu.

Mira strahlt Stärke aus. Sie weiß, was sie will. Kann sich durchsetzen. Erst vor Kurzem wurde sie in die Kinder- und Jugendvertretung des Dorfes gewählt.

Und doch, sind da nicht auch die Momente, in denen sie ihre leibliche Mama und ihre Schwester vermisst? „Ja“, sagt Mira. „Dann rufe ich meine Mama einfach an.“ Alle 14 Tage besucht sie ihre Mutter. Dann gehen sie Kuchen oder Eis essen und leben für einen Moment ein unbeschwertes Miteinander. „Meine Mama hab ich lieb und die Anke auch“, sagt Mira. „Weil die mich immer unterstützt. Vor der Karateprüfung zum Beispiel hatte ich so ein bisschen Angst. Anke hat gesagt: ,Das schaffst du schon. Du musst einfach an dich glauben’.“

SOS-Kinderdorf: 1949 wurde das erste Dorf gegründet

Hermann Gmeiner glaubte auch an sich, als er vor mehr als 70 Jahren die Idee hatte, verwaisten und verlassenen Kindern in der Nachkriegszeit ein neues Zuhause zu geben. 1949 gründete der Österreicher den Verein SOS-Kinderdorf und errichtete das erste Kinderdorf in Imst in Tirol. Seine Philosophie: Ein Kind braucht eine Mutter. Damit meinte er nicht unbedingt die leibliche, sondern die soziale Mutterschaft. Mit einem funktionierenden Zuhause, Geschwistern und einem Dorf als stützende Gemeinschaft, damit das Kind gut aufwachsen kann.

Jörg Kraft leitet das SOS-Kinderdorf in Harksheide.
Jörg Kraft leitet das SOS-Kinderdorf in Harksheide. © Bianca Bödeker

Heute leben in 138 Ländern und 575 Kinderdörfern mehr als 40.000 Kinder. In Deutschland haben 1741 in 38 Einrichtungen an 244 Standorten ein Zuhause gefunden. „Wir finanzieren uns zu rund 75 Prozent über öffentliche Mittel und einem knappen Viertel über Spenden, die der Kinderdorfverein und wir selbst einwerben“, sagt Jörg Kraft (62), Einrichtungsleiter hier am Standort Harksheide. „Sie geben uns ein Stückchen konzeptionelle Freiheit, Dinge zu tun, die wir mithilfe des Jugendamtes nicht tun könnten.“

Norderstedt: Kai Bormann ist ein großzügiger Unterstützer des Dorfes

Ein langjähriger Unterstützer des Kinderdorfes ist Kai Bormann (62). Im Alter von fünf Jahren rollte er 1965 zum ersten Mal mit seinen Großeltern im kleinen Brezelkäfer von Hamburg-Rissen nach Harksheide. Ausgerüstet mit Kuscheltieren und Matchboxautos, die im Dorf unter den Kindern die Runde machten. Seit 30 Jahren spendet der Hamburger Kaufmann jeden Monat und animiert seine Geschäftspartner dazu, gleiches zu tun.

Der Hamburger Kaufmann Kai Bormann ist Hauptpate des SOS-Kinderdorfes Harksheide.
Der Hamburger Kaufmann Kai Bormann ist Hauptpate des SOS-Kinderdorfes Harksheide. © Privat

„Weil ich weiß, dass meine Spende direkt ins Dorf geht.“ Für neue Computer und Unterrichtsmaterialien zum Beispiel, für Bücher oder die Ausbesserung des Fußballfeldes. Auch Psychologen und Soziologen werden, so Bormann, von den Spenden bezahlt. Um die oft traumatisierten Kinder, die hier ankommen, seelisch zu unterstützen.

SOS-Kinderdorf: Ersatzmama Anke macht Frühstück für sechs Kinder

Mittlerweile sitzen Mira und ich am Wohnzimmertisch des Dorfhauses mit Ersatzmama Anke. Es ist 15 Uhr. Seit dem frühen Morgen hat die 55-Jährige so einiges gestemmt. „Sechs Kindern musste Frühstück gemacht werden. Sechs Schulbrote mussten geschmiert, sechs Äpfelchen geschnitten werden und so weiter“, sagt sie, die mit ihrer leiblichen Tochter Caro (17) seit zehn Jahren hier lebt. „Heute hatte ich Glück, dass kein Kind krank war und keine Schule anrief, dass eine Stunde ausfällt. Also hatte ich sie alle relativ früh aus dem Haus.“

Und es ging gleich munter weiter. „Um 9 Uhr hatten wir Teamsitzung. Eine halbe Stunde später kam unsere Bereichsleitung dazu und wir haben die Woche geplant. Dann ging es an die Zubereitung des Mittagessens.“ Heute stand Gemüseauflauf auf dem Speiseplan. Lecker und gesund!

Anke Mortschin hört zu, tröstet, ermuntert, setzt Grenzen

Wie kam Anke Mortschin dazu, SOS-Kinderdorf-Mutter zu werden? „Nach der Trennung von meinem langjährigen Partner wollte ich mit Männern erst mal nichts zu tun haben“, sagt sie. „Aber Kinder wollte ich trotzdem. Ich las die Annonce vom SOS-Kinderdorf in der Zeitung und dachte: ‚Ja, das wär‘s’.“

Sie hört zu, tröstet, ermuntert, nimmt in den Arm, schenkt Geborgenheit, setzt Grenzen – Anke Mortschin macht alles, was Mamas so tun. Ergänzt um ihre hohe psychologische Kompetenz als ausgebildete Erzieherin. Viele Kinder haben zuvor Vernachlässigung in allen Facetten erlebt. Unterernährung, mangelnde Hygiene oder fehlende Zuwendung zählen dazu.

Für jeden gibt’s zur Erinnerung ein Fotobuch aus der gemeinsamen Zeit

„Für sie ist es schon ganz viel, wenn sie spüren, dass sie den gesamten Tag über versorgt sind. Das Essen auf dem Tisch steht, wenn sie aus der Schule kommen. Manchmal muss man einfach nur da sein, um ihnen gut zu tun, weil sie auch das oft nicht kennen“, sagt Anke Mortschin und lächelt Mira zu. Die gebürtige Rostockerin freut sich, dass das Mädchen hier seinen Ort gefunden hat, an dem es sich wohl fühlt. „Mira vertraut uns und wird später viel von uns mitnehmen können.“

Ach ja, wie ist das eigentlich, wenn die Kinder erwachsen und aus dem Haus sind? „Dem sehen wir mit einem lachenden und einem weinenden Auge entgegen“, sagt Anke Mortschin. Für jeden gibt’s zur Erinnerung ein Fotobuch aus der gemeinsamen Zeit – auch als Zeichen der Verbundenheit. Eine Verbundenheit, die bleibt. „Natürlich kommen sie Weihnachten zu uns, und natürlich feiern wir zusammen ihre Geburtstage.“

Kinderdorfmutter: „Es ist eine große Freude, diesen Kindern helfen zu dürfen.“

Unser Gespräch zeigt: Die Welt braucht mehr Kinderdorfmütter wie Anke Mortschin. „Wir suchen dringend Nachwuchs. Männer und Frauen, die sich vorstellen können, hier zu arbeiten. Es ist definitiv eine Lebensumstellung, und man sollte sich reiflich überlegen, ob es in das eigene Leben passt. Aber es ist eine sehr sinnstiftende Aufgabe. Wir haben hier beste Arbeitsmöglichkeiten und Arbeitsbedingungen“, sagt sie, die in der wenigen Freizeit gern Norddeutschland erkundet.

„Der Verein SOS-Kinderdorf ist ein super Arbeitgeber und unterstützt bei allem, was man braucht, um Kindern in Not helfen zu können. Ich empfinde meine Arbeit als sehr sinnstiftend. Es ist eine große Freude, diesen Kindern helfen zu dürfen.“

Norderstedt: SOS-Kinderdorf Harksheide feiert 60. Geburtstag

„Deine Zeit, sie ist vorbei. Leb dein Leben, ich bin frei. Deine Tränen, sie sind einfach fake, fake. Lass mich nicht manipulieren. Du brauchst es gar nicht probier’n. Deine Tränen, sie sind einfach fake, fake...“ Danke, liebe Mira, dass du zum Schuss auch noch so cool für mich gerappt hast! Schön war’s im SOS-Kinderdorf Harksheide – herzlichen Glückwunsch zum 60.!

Jubiläumsfest, Sa, 1.7., 14.00-17.00, Fest in der Dorfmitte, Henstedter Weg 55. Mit der der Bockum Band, Thomas, dem Zauberer, Cajon-Workshop, Hüpfburg und Bobbycarparcours, Bastel- und Spielstände.Spenden an: SOS-Kinderdorf Harksheide, Spendenkonto: DE24 2305 1030 0008 0038 08 BIC NOLADE21SHO Sparkasse Südholstein. www.sos-kinderdorf.de/kinderdorf-harksheide