Norderstedt. Das SOS-Kinderdorf feiert Geburtstag. Leiter Jörg Kraft erzählt, wie alles begann – und was sich seitdem geändert hat.

Das SOS-Kinderdorf Harksheide ist ein Ort, der Kindern Schutz bietet – seit 60 Jahren. Am 1. Juli feiert das Kinderdorf Geburtstag, mit einer großen Feier. Zeit, einmal zurück zu blicken. Wie lebten die Kinder vor 60 Jahren in dem Dorf – und wie heute? Wie sah früher die pädagogische Arbeit aus, was hat sich seitdem geändert – und was ist geblieben?

Mit Jörg Kraft, 63, stehen wir auf dem grünen, weitläufigen Gelände. Kraft ist seit 1994 Leiter des Dorfes, er fing 1991 hier an – und die Geschichte des Ortes kennt er sehr gut. „Hier ging es im September 1963 los, mit sechs Häusern.“

Norderstedt: Wie Kinder vor 60 Jahren im SOS-Kinderdorf Harksheide lebten

Das SOS-Kinderdorf Harksheide feiert am 1. Juli 2023 mit einer Party den 60. Geburtstag. Im Bild: Leiter Jörg Kraft.
Das SOS-Kinderdorf Harksheide feiert am 1. Juli 2023 mit einer Party den 60. Geburtstag. Im Bild: Leiter Jörg Kraft. © FMG | Claas Greite

n einem der Gebäude wohnte Udo Pütt, Sozialarbeiter, Diakon der evangelischen Kirche und erster Leiter des Dorfes. In den übrigen Häusern waren Kinderdorfmütter mit jeweils neun Kindern untergebracht. „Jeweils drei Kinder teilten sich ein Zimmer“, sagt Kraft. Und die Kinderdorfmutter durfte keinen Ehemann oder sonstigen Partner haben, so wollten es die damaligen Regeln.

„Die Frau musste alleinstehend sein. Das hatte damals eine zölibatäre Geste. Diese ideologische Festlegung wurde erst in den 80er-Jahren gekippt“, sagt Kraft. Mittlerweile dürften Kinderdorfmütter selbstverständlich Partner haben, die auch in dem Dorf wohnen dürfen – so diese denn „bereit sind, sich auf das manchmal herausfordernde Leben in so einer Familie einzulassen“, so Kraft.

60 Jahre SOS-Kinderdorf Harksheide: Stellenanzeige von 1966.
60 Jahre SOS-Kinderdorf Harksheide: Stellenanzeige von 1966. © SOS-Kinderdorf Harksheide

In den 60er-Jahren sollten Kinder, die in das Dorf kamen, die Eltern nicht mehr sehen

Wie war Pädagogik damals, was sind die wichtigsten Unterschiede zu heute? „In den 60er-Jahren ist man davon ausgegangen, dass Erwachsene wissen, was gut für die Kinder ist“, sagt Jörg Kraft. Und das bedeutete gleich bei Ankunft im Dorf einen zentralen Einschnitt für die Kinder. Die leiblichen Eltern sollten sie nämlich nicht mehr sehen.

„In der Anfangszeit gab es ganz klar die Idee, dass hier ein neues Leben beginnt und dass das alte ein Stück weit zurück gelassen werden soll“, erklärt der Dorfleiter. „Die Haltung der Fachleute war damals, es ist besser für das Kind, wenn der Kontakt zu den Eltern nicht stattfindet. Die Kinder wurden da nicht gefragt.“

Haltung der Pädagogen heute: Kinder sollen Kontakt zu den leiblichen Eltern pflegen

Jörg Kraft stellt klar: „Das sehen wir heute vollkommen anders. Die Kinder sollen den Kontakt zu den leiblichen Eltern pflegen. Das gestalten und unterstützen wir. Und wenn Eltern nicht für einen Besuch herkommen können, dann fahren wir mit dem Kind eben hin.“

Während in den 60er-Jahren ein Kind kaum eigene Entscheidungen treffen durfte – etwa, was die Schulwahl anbetrifft – so wird heute Mitbestimmung ganz groß geschrieben im SOS-Kinderdorf. „Die Kinder sollen bei uns mitsprechen, mitentscheiden dürfen“, sagt Jörg Kraft. Es gehe dabei um „die Erfahrung von Selbstwirksamkeit“, durch die Kinder „lernen, ihr Leben selbst zu gestalten.“

Mitbestimmung: Im Dorf gibt es eine „Kinder- und Jugendvertretung“

Wie das konkret aussieht? „Das geht los beim Speiseplan, über den wir gemeinsam entscheiden. Und die Kinder dürfen natürlich auch ihr Zimmer selbst gestalten.“ Mittlerweile – das ist schon lange Standard – hat jedes Kind ein eigenes Zimmer für sich.

Es gibt im SOS-Kinderdorf auch die „Kinder- und Jugendvertretung“, die regelmäßig tagt, über Themen, die den Kindern wichtig sind. Und dann gibt es auch „Vollversammlungen“, an denen alle 60 jungen Bewohnerinnen und Bewohner teilnehmen.

Aus welchen Gründen Kinder in den 60er-Jahren in das Dorf kamen

Zurück ins Jahr 1963. Was führte damals eigentlich dazu, dass ein Kind in SOS-Kinderdorf kam? „Anders als oft gedacht, waren das so gut wie nie Waisenkinder“, sagt Jörg Kraft. Stattdessen seien – damals wie heute – Kinder ins Dorf gekommen, „deren Eltern mit der Erziehung überfordert waren.“ Kraft: „Die Kinder wurden nicht angemessen versorgt oder haben sogar Gewalt erfahren.“

Heute gebe es „viele Eltern, die mit der Komplexität des Lebens aus ganz unterschiedlichen Gründen überfordert sind, manche sind zum Beispiel krank.“ 1963 sei es ähnlich gewesen, „aber möglicherweise waren die Anlässe für das familiäre Chaos andere. Da gab es Kriegsheimkehrer mit posttraumatischen Störungen und allein erziehende Mütter, deren Ehemänner im Krieg gefallen waren.“

Mehrzahl der Kinder ist auf richterlichen Beschluss im Dorf untergebracht

Kinderdorffamilie in den 1970er Jahren: Die Kinderdorfmutter hilft beim Üben. 
Kinderdorffamilie in den 1970er Jahren: Die Kinderdorfmutter hilft beim Üben.  © SOS-Kinderdorf Harksheide

Teilweise gehen die Kinder mit Zustimmung der Eltern ins SOS-Kinderdorf. In der Mehrzahl der Fälle passiert das jedoch gegen deren Willen, auf Initiative des Jugendamtes, wenn eine sogenannte „Kindswohlgefährdung“ vorliegt. Dafür ist ein richterlicher Beschluss nötig. Dazu Jörg Kraft: „Die Mehrzahl der Kinder im Dorf ist auf richterlichen Beschluss hier.“

Dass Eltern dann gut mit dem Personal des Kinderdorfs zusammenarbeiten, verstehen, dass es im Interesse des Kindes ist, dort zu sein, ist oft „ein Prozess“, sagt Jörg Kraft. Der könne Jahre dauern – in denen es dann aber immer wieder wöchentliche Besuche der Eltern gibt und gemeinsame Unternehmungen. Kraft: „Einmal in 32 Jahren habe ich erlebt, dass eine Mutter mit einigen männlichen Begleitpersonen versucht hat, ein Kind hier rauszuhauen. Aber das war das einzige Mal.“

Ab den 70er Jahren wuchs das Dorf – es kamen eine Turnhalle und eine Werkstatt dazu

Ab den 70er-Jahren wuchs das Dorf, es kamen immer mehr Häuser dazu – heute sind es 20.. Nach und nach kamen dann auch „Zweckbauten“, wie die Turnhalle, die Werkstatt und andere Freizeitbereiche dazu. „Nur den Wunsch der Kinder nach einem Schwimmbad haben wir noch nicht erfüllen können“, sagt Jörg Kraft.

Dafür gibt es eine „Pferde-Herde“ in Trittau, die mit Kindern besucht wird. Im Rahmen der „pferdegestützten Pädagogik“ können Kinder, die sehr schlechte Erfahrungen mit Erwachsenen gemacht haben, Beziehungen zu einem Tier aufbauen – was ihnen dann wiederum auch im Umgang mit Menschen hilft.

Kinder machen an Nord- und Ostsee Urlaub, am Plattensee oder auf Mallorca

In den Urlaub fahren die jungen Bewohnerinnen und Bewohner auch, zum Beispiel, an die Nord- oder Ostsee, an den Rhein, den Plattensee oder nach Mallorca. In den Urlaub geht es dann mit der jeweiligen Kinderdorfmutter, oder mit Erzieherinnen.

Anfang der 2000er-Jahre änderte sich nämlich die Art der Betreuung noch einmal grundlegend. „Wir haben die Betreuung stärker professionalisiert. Das bedeutet, seitdem gibt es in jeder Kinderdorf-Familie zusätzlich zur Mutter zwei Erzieherinnen, die im Zweifel vertreten können.“ Maximal sechs Kinder leben heute in einem Haus.

Hermann Gmeiner, Gründer der SOS-Kinderdörfer, bei der Grundsteinlegung für das SOS-Kinderdorf Harksheide am 28.04.1962.
Hermann Gmeiner, Gründer der SOS-Kinderdörfer, bei der Grundsteinlegung für das SOS-Kinderdorf Harksheide am 28.04.1962. © SOS-Kinderdorf Harksheide

Auch Familien aus der Ukraine wohnten schon auf dem Gelände des Dorfes

Außerdem wurden „die Wohnformen diversifiziert und der Zeit angepasst.“ Das bedeutet: Es gibt heute nicht mehr nur Kinderdorf-Familien, sondern auch Wohngruppen für Jugendliche, in denen es keine „Mutter“ gibt – wohl aber sind an jedem Tag in der Woche rund um die Uhr Erzieherinnen anwesend. Es gibt im Dorf heute auch ein Haus für eine „Tagesgruppe“, in der Kinder nach der Schule betreut werden, ähnlich wie in einem Hort. „Dort machen wir auch Elternarbeit“, sagt Jörg Kraft.

Es haben auch schon Kinder aus der Ukraine in dem Kinderdorf gewohnt – zusammen mit ihren leiblichen Müttern, mit denen sie geflohen waren. Und eine Wohngruppe mit jungen Männern aus Afghanistan gab es im SOS-Kinderdorf auch schon. „Das waren lauter sympathische, engagierte junge Männer. Die haben ganz schnell Deutsch gelernt, viele machen heute eine Ausbildung“, sagt der Dorfleiter.

Norderstedt: Was sich seit dem Jahr 1963 nicht geändert hat im Dorf

Noch einmal ins Jahr 1963 geblickt. Gibt es denn – bei all den vielen Veränderungen – auch Dinge, die gleich geblieben sind? „Ja“, sagt Jörg Kraft. „Geblieben ist die Überzeugung, dass eine Bindungsbeziehung zu den Kindern die Grundlage für deren Entwicklung ist. Damals wie heute wollen wir ein sicherer Ort für Kinder sein.“

Und was wünscht er sich für die Zukunft, für sein Dorf? „Vor allem, dass wir die Mitarbeiter bekommen, die wir brauchen. Der Fachkräftemangel ist im Moment unser drängendstes Problem.“

Am Sonnabend, 1. Juli, wird der Geburtstag im SOS-Kinderdorf (Henstedter Weg 55, Norderstedt) groß gefeiert. Von 14 bis 17 Uhr steigt ein Fest in der Dorfmitte. Die Bockum Band spielt, es kommt ein Zauberer, es gibt Spielstände, einen Bobbycar-Parcours und vieles mehr. Jeder ist eingeladen, Eintritt frei.

Wer Pate werden oder spenden möchte, bekommt unter Telefon 040/589 79 54-0 und unter www.sos-kinderdorf.de/kinderdorf-harksheide die nötigen Informationen.