Norderstedt. Die Athleten und Athletinnen der Norderstedter Werkstätten kämpfen um Medaillen. Warum ausgerechnet ihr Gepäck für Probleme sorgte.

Eigentlich müsste sie an diesem Morgen total müde sein, absolut übernächtigt. Seit Tagen hat sie nicht mehr richtig geschlafen. Doch als Valentina Beck (31) um kurz vor 8 Uhr an den Norderstedter Werkstätten eintrifft, ist sie nicht müde. „Nur aufgeregt“, ruft sie und reißt die Arme in die Luft. Dann fällt sie ihrer Trainerin Maike Rotermund um den Hals (60), und ihrem Teamkollegen Franz Bechler (33), dann wieder Maike und wieder Franz. Sie rennt von einem zum anderen, kichert, lacht, springt und hüpft. Dabei ruft sie immer wieder: „Ich freu mich so, ich freu mich so.“

Monatelang haben Valentina Beck und ihre Mannschaftskameraden der Norderstedter Werkstätten auf diesen Tag gewartet. Den Tag der Abreise zu den Special Olympics World Games – der weltweit größten Sportveranstaltung für Menschen mit geistiger Behinderung. Zum ersten Mal finden die Weltspiele in Deutschland – in Berlin – statt. Und das Team Norderstedt ist dabei. 7.000 Athletinnen und Athleten aus der ganzen Welt reisen in den nächsten Tagen an.

Valentina Beck mit ihrer Trainerin Maike Rotermund.
Valentina Beck mit ihrer Trainerin Maike Rotermund. © Miriam Opresnik

Mit einem Glücksbringer im Herzen und Ballermannhits im Ohr zu den Weltspielen

Es ist 8.37 Uhr, als der Reisebus von der Schleswig-Holstein-Straße in die Stormarnstraße einbiegt – und vorbeifährt. Die Verwirrung ist groß, dann die Erleichterung: Der Bus dreht nur. Leichtathlet Franz Bechler greift nach seiner Sporttasche, es ist die gleiche, die alle im Team haben. Sie tragen die gleichen Shirts, die gleichen Jacken und Hosen. Vor einigen Wochen waren sie in Berlin zur Einkleidung. „Wenn du plötzlich den Adler auf der Brust hast und für Deutschland startest, ist das irre“, sagt Franz Bechler.

Er tritt im 100-Meter-Sprint, der 4 x 100-Meter-Staffel sowie im Minispeerwurf an und will auf jeden Fall eine Medaille holen. Für Deutschland und seine Mutter Kerstin – und für Jana natürlich, seine Freundin. Die beiden leben in einer Wohngruppe, seit zwölf Jahren sind sie ein Paar. „Für sie hol ich Gold“, sagt Franz und zeigt auf sein Herz. „Da ist Jana drinnen, das bringt mir Glück.“ Er brauche keinen Teddy als Maskottchen. „Ich habe einen Glücksbringer im Herzen.“

Bereit für Berlin: Franz will für seine Freundin Jana eine Goldmedaille gewinnen

In zwei Tagen hat Jana Geburtstag. Weil Franz dann schon in Berlin ist, hat er seine Mutter gebeten, seine Freundin zu besuchen und ihr Blumen zu bringen. „Ich bin ein Frauenversteher, ich weiß, was Frauen wollen“, sagt Franz und grinst. In Berlin will er nicht nur Gold holen, sondern auch ein Geschenk für Jana kaufen. Ein Plüschherz mit Beinen. Es ist das offizielle Maskottchen der Special Olympics World Games und symbolisiert Gemeinschaft und Teilhabe. Der Name: „Unity“ (Einheit).

Gestern Abend hat er 50 Autogramm-Karten unterschrieben. Jeder von ihnen hat eine eigene mit Foto und Steckbrief, die sie vor Ort verteilen und mit anderen Athleten aus Deutschland und der ganzen Welt austauschen. „Wir verstehen uns alle gut, auch wenn wir Konkurrenten sind“, sagt Franz und winkt Robin Schmidt (25) zu sich. Die beiden sind Freunde. Sie teilen sich ein Zimmer und wollen im Bus nebeneinandersitzen.

Robin Schmidt (links) und Franz Bechler teilen sich in Berlin ein Zimmer und sind enge Freunde. Sie wollen beide Gold gewinnen.
Robin Schmidt (links) und Franz Bechler teilen sich in Berlin ein Zimmer und sind enge Freunde. Sie wollen beide Gold gewinnen. © Miriam Opresnik

Special Olympics: Die Stimmung ist wie auf einer Klassenreise

„Damit wir zusammen Party machen können“, sagt Robin. „Aber passt bloß auf, dass ihr es nicht zu wild treibt und rausfliegt“, ruft einer der Umstehenden. Alle lachen. Die Stimmung ist wie auf einer Klassenfahrt. Im Bus will Franz Ballermannhits hören.

In den letzten Tagen haben sie sich im Internet das Hotel angeguckt, in dem sie wohnen werden. „Da gibt es einen Toaster, in dem man fünf Scheiben gleichzeitig toasten kann“, sagt Franz. Er ist beeindruckt, so was hat er noch nie gesehen. Er selbst isst am liebsten Brötchen oder Pfannkuchen. Nur in den letzten Wochen nicht. „Da hab ich Diät gemacht, um für die Spiele abzunehmen“, sagt er und klopft sich auf den Bauch. Er ist stolz auf sich. Vier Kilo sind runter.

Für den Traum von einer Medaille auf Brötchen und Pfannkuchen verzichtet

Maike Rotermund drängt zum Aufbruch, der Zeitplan ist eng. Sie müssen auf dem Weg nach Berlin in Lübeck noch weitere Athleten einsammeln. Doch dann gibt es ein Problem: Das Gepäckfach im Bus ist voll – und die Norderstedter haben ihre Taschen noch nicht mal eingeladen. Also müssen alle Gepäckstücke wieder ausgeladen, umgeschichtet und neu eingeladen werden.

Valentina drückt ihren Rucksack eng an sich, den will sie auf jeden Fall mit zu ihrem Sitzplatz nehmen. Darin ist ein Kuschelkissen, das sie zum Abschied geschenkt bekommen hat. Mit einem Bären drauf, es soll ihr Glück bringen. „Vielleicht schlafe ich im Bus ein bisschen“, sagt Valentina und grinst. Sie glaubt selbst nicht, dass es klappen wird.

Los geht’s: Trainerin Maike Rotermund winkt zum Abschied.
Los geht’s: Trainerin Maike Rotermund winkt zum Abschied. © Miriam Opresnik

Mit einem Glücksbringer im Herzen und Ballermannhits im Ohr zu den Weltspielen

Dann ist es soweit. „Alle einsteigen“, ruft Maike Rotermund. Ein letztes Mal umarmen die Athleten ihre Eltern und ihre Freunde aus den Werkstätten, die zum Abschied winken. Viele von ihnen fahren in den nächsten Tagen ebenfalls nach Berlin, um das Team Norderstedt anzufeuern. „Wir sehen uns in Berlin“, ruft Valentina, bevor sie in den Bus steigt. Sie drückt ihre Nase von innen gegen das Fenster, klopft gegen die Scheibe und winkt aufgeregt.

Um 9.08 Uhr rollt der Bus langsam vom Hof der Norderstedter Werkstätten. Das Abenteuer Special Olympics World Games hat begonnen. Es ist kurz nach 12 Uhr, als Valentina im Bus einschläft.