Norderstedt. Die Hamburgerin (41) wog 114 Kilo, als sie die Notbremse zog. Wie man ihr in der Schön Klinik in Bad Bramstedt half.
. Bonbons und Kekse isst sie morgens um halb drei. Völlig übermüdet hinterm Lenkrad auf dem Weg zur Arbeit. Nach Schichtbeginn dann ein Franzbrötchen oder Croissant. So geht’s immer weiter. Den gesamten Tag. Und der ist lang. 15 Stunden und mehr dauert Sarahs Schicht.
Sarah ist selbstständig. Mit einer eigenen Bäckerei. Und je größer der Stress, desto mehr Ungesundes stopft sie in sich rein. Wahllos. Nach Feierabend isst die alleinerziehende Mutter Zuhause zur Entspannung einfach weiter. Und nimmt immer mehr zu.
Bad Bramstedt: Essstörungen, Adipositas: Wie Sarah lernte, richtig zu Essen
Mit 114 Kilo und der Diagnose „Essstörungen mit Adipositas“ zieht die 165-cm große Frau (BMI 41,9) die Notbremse. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits 12 Kilo durch Diät runtergehungert. Trennt sich nach 16 Jahren dauerhaft von der Bäckerei und kurzzeitig von der Familie. Sie lässt sich einweisen – in die Schön Klink Bad Bramstedt. Und da treffe ich Sarah.
Dunkelblondes langes Haar, fröhliche hellbraune Augen und ein erfrischendes Lächeln. Sarah ist eine Sympathieträgerin. Für unser Gespräch ist die 41-jährige Hamburgerin nach Bad Bramstedt zurückgekehrt. Vier Wochen sind seit ihrer Therapie vergangen.
Oberarzt Dr. Christian Dannmeier war Sarahs behandelnder Arzt
Viele ihrer Mitpatienten sind noch da. Man kennt sich. Ein großes Hallo, als wir über den Flur gehen in das Büro von Dr. Christian Dannmeier. Der 51-Jährige Internist und Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie ist Oberarzt an der Klinik und war Sarahs behandelnder Arzt.
Sarahs Geschichte, in die wir gleich näher einsteigen, beschreibt keinen Einzelfall: Übergewicht ist hierzulande ein schwerwiegendes Thema. Die Statistik zeigt: Rund 46,6 Prozent der Frauen und 60,5 Prozent der Männer sind davon betroffen. Fast ein Fünftel der Erwachsenen weisen eine Adipositas auf.
Adipositas ist nach Meinung der Ärzte zum Teil genetisch bedingt
Was ist das genau? „Adipös kommt aus dem Lateinischen und heißt fett“, sagt Dannmeier. „Es handelt sich hierbei um einen vermehrten Körperfettanteil mit zu viel Nahrung/Kalorien und zu wenig Bewegung und Sport. Wir gehen davon aus, dass es eine komplexe, zum Teil genetisch bedingte chronische Stoffwechselerkrankung ist, die im Körper immer weiter voranschreitet.“
Ein Grund, so Dannmeier, liege neben möglichen genetischen Ursachen in der jederzeitigen Verfügbarkeit hochkalorischer Lebensmittel wie Fast Food und Co. Das Risiko nicht nur seelischer, sondern auch körperlicher Folgeerkrankungen ist groß: Bluthochdruck, Gelenkverschleiß, schlafbedingte Atemstörungen, Kinderlosigkeit oder Krebserkrankungen gehören dazu. Sie verschlechtern die Lebensqualität und verkürzen sogar die Lebenserwartung.
Besonders häufig sind Adipositas und Diabetes Typ 2 miteinander verbunden. Wie bei Sarah. Doch dazu später.
„Früher war ist sportlich, bin Fahrrad gefahren, geschwommen, geritten“
„Ich war nie besonders dünn, aber immer zufrieden“, sagt sie rückblickend. „Und ich war sportlich. Bin Fahrrad gefahren, geschwommen, geritten. Dann kam die Bäckerei. Von da an habe ich keinen Sport mehr gemacht. Hatte nur noch die Bäckerei im Fokus und am Leben gar nicht mehr teilgenommen.“
Durch den Stress nimmt Sarah immer mehr zu. Im August 2022 realisiert sie erstmalig: Ich habe ein ernsthaftes Problem. „Ich suchte mir eine Psychotherapeutin, weil ich auch seelisch nicht mehr konnte“, sagt sie.
Sarah versuchte es erst einmal allein mit einer Diät
„Die war ganz einfühlsam und sagte: ‚Ich glaube, Sie haben eine Essstörung. Bevor wir alles andere behandeln, sollten Sie die erst mal in Angriff nehmen.’ Ich bin dann raus aus der Praxis und dachte: Die hat ja ‘nen Knall. Ich bin doch gar nicht so fett wie andere. Das versuche ich erst mal alleine mit einer Diät.“
Im November vergangenen Jahres hat Sarah dann bereits 12 Kilo runter. Und entscheidet sich doch für eine stationäre Aufnahme. Warum? „Ich war zu dem Zeitpunkt bereits krankgeschrieben, hatte mich zuvor von der Bäckerei getrennt. Doch auch mit dieser Belastung bin ich seelisch einfach nicht zurechtgekommen.“
Später ließ sie sich in die Schön Klinik einweisen, für rund acht Wochen
Sarah lässt sich für rund acht Wochen in die Schön Klink einweisen. Um nach dem Anti-Diät-Konzept behandelt zu werden. „Zunächst habe ich gedacht: Anti-Diät? Oh mein Gott, hier bin ich verkehrt. Ich will doch abnehmen“, sagt sie. „Als ich dann erfuhr, es geht darum, nicht das Hungern, sondern das Essen zu erlernen und sein Sättigungsgefühl wiederzufinden, habe ich mich auf die Therapie eingelassen.“
Die Philosophie dahinter erklärt Dannmeier wie folgt: „Ziel der Behandlung ist, die Symptome der Erkrankung zu reduzieren, den allgemeinen Gesundheitszustand der Patienten zu verbessern und das Essen erneut zu lernen. Mit drei festen Hauptmahlzeiten, gegebenenfalls auch Zwischenmahlzeiten, wenn diese dazu dienen, Heißhungerattacken vorzubeugen.
Ein Bewegungsprogramm sowie psychotherapeutische Sitzungen gehören dazu
Kurzum: Im Einklang mit Körper und Seele achtsam, genussvoll und langsam zu essen.“ Zur Therapie gehöre auch, so der Mediziner, in der Lehrküche mit den Ernährungstherapeuten nach schmackhaften Rezepten zu kochen und nachher in gemeinsamer Runde zu essen. Abgerundet wird das Konzept durch ein individuelles Bewegungsprogramm. sowie psychotherapeutische Unterstützung in Gruppen- und Einzelgesprächen.
Dannmeier: „In der Psychotherapie geht es zum Beispiel darum, an einer zugrundeliegenden Selbstwertproblematik zu arbeiten, den Umgang mit Stress, Anspannung und negativen Gefühlen zu verbessern und sich realistische Ziele zu setzen – sowohl im Hinblick auf das Gewicht, als auch darauf, was im Leben noch wichtig ist oder wieder mehr Bedeutung bekommen soll.“
Tüte Bonbons war erlaubt – Rigide Selbstkontrolle ist nicht das Ziel
Langsam, regelmäßig und genussvoll zu essen – das zu erlernen, sei für sie schließlich der Schlüssel zum Erfolg gewesen, sagt Sarah. Und mal wieder zu schmecken. „Kohlrabi zum Beispiel hatte ich ewig nicht gegessen. Die waren total lecker.“
Und was war, wenn sie doch mal Lust auf etwas Süßes hatte? Sarah lacht und erinnert sich: „Einmal war ich mit einer Mitpatientin während eines Spaziergangs im Supermarkt. Die kaufte sich Süßigkeiten. Ich hatte gleich das P in den Augen. Das fühlte sich für mich ganz schlimm und verboten an. Doch haben wir in der Therapie auch gelernt, dass wir uns nichts verbieten sollen. Kurze Zeit später habe ich mir dann selbst eine Tüte Bonbons gekauft und jeden Tag nach dem Mittagessen eines dieser Bonbons gelutscht.“
„Das ist absolut in Ordnung“, sagt Dannmeier. „Wir empfehlen unseren Patienten ja: Geben Sie auch dem Genuss Raum. Gehen Sie weg von rigider Kontrolle hin zu mehr Flexibilität.“
Sieben Kilo abgenommen – positive Auswirkungen auf den Stoffwechsel sind messbar
Sieben Kilo hat Sarah während der Therapie abgenommen. Das klingt zunächst nicht nach viel. Und doch: „Fünf bis zehn Prozent Gewichtsabnahme sind langfristig gesehen schon mal ein ganz toller Erfolg“, sagt Dannmeier. „Mit bereits sehr günstigen Auswirkungen auf den Stoffwechsel.“
Wie in Sarahs Fall: Als Patientin mit Diabetes Typ 2 ist sie mit einem erhöhten Langzeit-Blutzuckerwert von 6,5 in der Klinik aufgenommen worden, zum Zeitpunkt der Entlassung lag der bei 5,5. „Die Diagnose ist dadurch aller Wahrscheinlichkeit nach nicht weg“, sagt Dannmeier. „Aber durch die Gewichtsreduktion ist es zu einer deutlichen Verbesserung gekommen.“
Möhren, Salat, Geschnetzeltes: Zu Hause hängt jetzt eine Essenstafel für die Woche
Seit Anfang März ist Sarah wieder zu Hause bei ihrem Sohn, mit dem sie im Haus der Eltern wohnt, die den Jungen auch während Sarahs Therapiezeit liebevoll betreut haben. In der Küche hängt seit ihrer Rückkehr eine Magnettafel mit Bannern.
Auf der stehen alle Essenswünsche für die kommende Woche. Tomaten mit Mozzarella, Möhren, Salat, Geschnetzeltes gehören dazu. „Wir haben exakt 30 Banner. Jeder wird nur einmal im Monat verwendet“, sagt Sarah. „Das macht das Einkaufen und die Planung leichter. Da stehen zur Freude meines Sohnes auch mal Chicken Nuggets mit Pommes drauf. Aber wenn die Woche vorbei ist, kommen die erst wieder vier Wochen später auf den Tisch.“
Sarah geht nun zweimal in der Woche Schwimmen und ist viel mit dem Hund unterwegs
Wie will Sarah künftig ihr Geld verdienen und welchen Stellenwert dem Thema Leistung geben? „Ich bin sehr leistungsorientiert, darüber habe ich mit meinem Bezugstherapeuten lange gesprochen. Er hat mir geraten, mir zunächst einmal einen normalen Job zu suchen. Auch um Zeit zu finden, wieder Struktur ins Leben zu bringen.“
Dazu gehört auch ein regelmäßiges Sportprogramm. Zweimal pro Woche geht sie nun zum Schwimmen. „Und ich bin viel mit dem Hund unterwegs, komme so täglich auf 16.000 bis 20.000 Schritte.“
30 Kilo Gewichtsabnahme in den nächsten beiden Jahren – das ist Sarahs Vorhaben
Sarah will weiter abnehmen. 30 Kilo in den kommenden zwei Jahren. Am liebsten mit psychologischer Begleitung. Derzeit ist sie noch auf Therapeutensuche. Zum nachhaltigen Erfolg empfiehlt sich nach dem Klinikaufenthalt grundsätzlich eine mehrmonatige ambulante Weiterbehandlung – mit Psychotherapie, Bewegungstherapie und Ernährungsberatung, so Dannmeier.
„Die Weltgesundheitsorganisation und auch die Europäische Union haben in den vergangenen Jahren Adipositas als chronische Erkrankung anerkannt, zuletzt 2020 auch der Deutsche Bundestag. Und damit sind zumindest schon mal die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Behandlungsprogramme aufgelegt werden können.“
Bad Bramstedt: Was Sarah Menschen rät, die auch in so einer Situation sind
Sein Appell an die Gesetzgebung und Kostenträger: Vernünftige langfristige ambulante Behandlungsprogramme aufzulegen, die nach der stationären Behandlung umgesetzt werden können und von den Trägern bezahlt werden.
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Abschließende Frage: Welchen Ratschlag gibt Sarah Menschen in ihrer Situation? „Sucht euch Hilfe. Die siebeneinhalb Wochen hier haben mir sehr gut getan. Vor allen Dingen der Kontakt mit den anderen Mitpatienten. Hier hatten alle das gleiche Problem. Aus dem Verständnis füreinander kann man sich so ganz anders austauschen. Die gemeinsame Zeit mit den Gleichgesinnten ist mindestens genauso wichtig wie die eigentliche Therapie.“