Norderstedt. Autorin Doro May las auf Einladung der Lebenshilfe aus ihrem neusten Buch „Alles außer planmäßig“. Wovon das Buch handelt.

Die rund 300 Bildungs- und Freizeitangebote aus den Bereichen Kultur Bildung, Spaß, Natur Erleben sowie Sport Bewegung der Lebenshilfe Norderstedt e.V. sind bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Beeinträchtigungen beliebt. Wir haben uns vier Aktivitäten rausgesucht, über die wir in lockerer Reihenfolge berichten. Heute geht’s zur Lesung.

Und das ist eine ganz besondere. Eine inklusive. Mit der Autorin Doro May (69). Auf Einladung von Lebenshilfe und Stadtbücherei Norderstedt las die gebürtige Essenerin aus ihrem Buch „Alles außer planmäßig“ (Neufeld-Verlag, ISBN 978-3-86256-167-4, 16,90 Euro). Es ist das dritte Buch über den Alltag mit ihrer Tochter Tina, die vor 34 Jahren mit Down-Syndrom und Autismus auf die Welt kam.

Spannend und witzig – Alltag mit einem Kind mit Down Syndrom

Doro May, studierte Germanistin, Musik- und Erziehungswissenschaftlerin, wagt sich neben Themen wie Wohnheim, stressige Arztbesuche und Inklusion an Tabubereiche wie Übergriff und Sexualität. Darüber hinaus darf auch der Spaß nicht fehlen. Will heißen: Das Buch, genauso wie die beiden vorangegangenen, aus denen die Autorin in den Räumen der Stadtbücherei ebenfalls las, erzählt von spannend-witzigen Begegnungen mit der besonderen Tochter.

Wie auf dem Sommerfest in Tinas Wohnheim. Frau Igel, Tinas persönliche Betreuerin, bringt eine Freundin mit zu diesem bunten Nachmittag. Das gefällt Tina überhaupt nicht. Und das zeigt sie dieser auch. Sie schmiedet einen Plan. Kippt Frau Igels Freundin die Currywurst über den Busen, sodass sich die Sauce farbenfroh über deren weiße Hose verteilt. Tina ist glücklich und schüttet zur Erheiterung der Mutter und im Beisein des um Contenance ringenden Vaters das Glas Cola gleich hinterher.

Doro May: „Wir haben uns deshalb früh entschieden, dass Tina in einem Wohnheim lebt“

Hamburger Abendblatt: „Tina ist mein Schmetterling...“ sagen Sie über Ihre Tochter. Ein schönes Bild. Was verbinden Sie damit, Doro May?

Doro May: Mit einem Schmetterling verbinde ich etwas Buntes. Etwas, das Freude bereitet. Wie Tina. Nach dem anfänglichen sehr schwierigen Start ins Leben bin ich froh, dass es sie gibt. Ist. Wir haben drei Kinder, Tina ist ‚das Salatblatt auf dem Sandwich’. Unsere mittlere Tochter und irgendwie ist Sie was ganz Besonderes.

Was ist das Besondere an ihr?

Sie hat meinen Blick auf das Leben sehr verändert.

Inwiefern?

Ich habe gelernt, Dinge vom Ende aus zu betrachten. Werden Probleme oder Themen aufgegriffen, überlege ich: Worauf laufen diese hinaus? Und wie kann man dieses Ende sinnvoll eintüten? Nehmen wir das Thema Inklusion. Am Ende sieht es doch so aus, dass mein Mann und ich nicht mehr da sind. Und ein Mensch wie Tina, der von einer Behinderung betroffen ist, ohne uns auskommen muss. Das heißt, Menschen wie Tina müssen rechtzeitig auf eine Schiene gebracht worden sein, sodass wir Eltern beruhigt gehen können. Wir haben uns deshalb früh entschieden, dass Tina auf jeden Fall in einem Wohnheim lebt, wo wir sie immer besuchen und nach Hause holen können. Dort kann sie bis zu ihrem Lebensende bleiben.

Die Autorin Doro May las in der Stadtbücherei aus ihrem Buch über ihre Tochter Tina.
Die Autorin Doro May las in der Stadtbücherei aus ihrem Buch über ihre Tochter Tina. © may | Doro May

Ihre Tochter ist jetzt 34 Jahre alt. Was war ihr bislang ganz besonderer, gemeinsamer Glücksmoment?

Ich erinnere mich gerne an ein jüngeres Beispiel. Heiligabend feiern wir immer zweimal. Einmal ohne Tina, sie feiert diesen im Wohnheim, und einmal mit ihr am ersten Weihnachtstag. Es gibt jedes Jahr Raclette, weil Tina das so mag. Alle Kinder sind da, mit ihren Partnern und unseren Enkeln.

Doro May: „...und dann vergisst Tina für einen Moment ihren Autismus“

Die kuscheln dann nach dem Essen alle auf dem Sofa. Und Tina ist mittendrin. Dann vergisst sie für einen Moment ihren Autismus. Sie lässt sich knuddeln, ihre Füßchen kraulen und bandelt mit ihrem Judogürtel mit jedem an.

Was empfindet Tina bei dem Gedanken, dass sie nun schon Protagonistin eines dritten Buches ist?

Ich zeige ihr das Buch, und sie tippt dann drauf, weil sie sich auf dem Foto erkennt. Was sie darüber denkt, weiß ich nicht. Sie kann ja nicht sprechen.

Was können Sie persönlich von Tina lernen?

Resilienz. Dadurch, dass Tina nicht sprechen kann, muss sie vieles ertragen und hinnehmen und so auf ihre Weise das Beste draus machen.

Wie macht sie das?

Indem sie sich zurückzieht. Oder zu jemandem geht und ihm etwas vorjammert, bis der kapiert, was mit ihr los ist. Oder sie nimmt es hin, geht in ihr Zimmer und beruhigt sich mit diesem Judogürtel, den sie aufwickelt, irgendwo rumschlingt oder versucht, darüber mit jemandem anzubandeln.

Sie hat so gelernt, Dinge zu akzeptieren, die sie nicht ändern kann. Sie muss mit so vielem klarkommen, weil sie es trotz Grundgebärden, mit denen sie gelegentlich kommuniziert, nicht ausdrücken kann. Da bewundere ich sie.

Sie sind heute auf Einladung der Lebenshilfe und der Stadtbücherei hier. Wie wichtig ist die Lebenshilfe in unserer Gesellschaft?

Ich halte die Lebenshilfe für uns Eltern für extrem wichtig, weil wir, wie gesagt, nicht jünger werden. Man muss bedenken, die Lebenshilfe ist gegründet worden im Zusammenhang mit den Contergan-Fällen. Und dieser Gründungsgedanke basierte auf dem Ziel, dass Eltern entlastet werden auf der einen Seite, und ihre Kinder ein Umfeld finden, in dem sie respektiert werden.

Alltag mit einem Kind mit Down-Syndrom

Durch die Inklusion kommen sie Gott sei Dank in allen möglichen Außenbereichen auch vor. Man rümpft nicht mehr die Nase, wenn sich da jemand irgendwie anders verhält. Jedenfalls nur noch ganz selten.

Wen würden Sie zum Thema Inklusion gerne mal treffen, und was würden Sie fragen?

Es gibt in Hamburg, soweit ich weiß, eine WG, in der Studenten und Menschen mit geistiger Behinderung zusammenwohnen. Meine Frage würde ich wieder vom Ende aus betrachtet stellen: Was kommt, wenn die WG-Mitglieder irgendwann eigene Familien haben? Wird sich die Lebensgemeinschaft inklusiv weiterentwickeln und gemeinsam alt werden? Das fände ich sehr spannend zu erfahren.