Norderstedt. Marco hat seine Freundin bestohlen, um zocken zu können. Er hatte 250.000 Euro Schulden, musste ins Gefängnis. Seine ganze Geschichte.

Zwanghaftes Zocken in rasanter Regelmäßigkeit. Heute die Taschen voller Geld, morgen grüßt der Pleitegeier. Rund 360.000 Menschen in Deutschland sind spielsüchtig. Einer von ihnen ist Marco. Spielsüchtig nach Sportwetten. Seit er 20 ist. „Ich war ein Lügner, ein Betrüger, ein Krimineller“, sagt der 34-Jährige, Häftling im offenen Vollzug der Justizvollzugsanstalt (JVA) Glasmoor in Norderstedt, Mitarbeiter einer Jugendeinrichtung und Student der Sozialen Arbeit.

Der Norderstedter will uns seine Geschichte erzählen. Eine Geschichte, die aufklären soll über das Thema Spielsucht und seine Konsequenzen. Die aufzeigen soll, dass stoffungebundene Sucht ebenso gefährlich ist wie die stoffgebundenen Drogen und Alkohol. Mit dem Ziel, anderen Mut zu machen, sich aus Scham, Lügen und Verzweiflung zu befreien. In der Zuversicht, die Spielsucht zu überwinden.

Norderstedt: Spielsucht – „Ich war ein Lügner, Betrüger, ein Krimineller“

Ein Café am Langenhorner Markt. Vor mir sitzt ein sportlicher, durchtrainierter Mann mit kurzen dunklen Haaren, wachen braunen Augen und festem Blick. Auf seiner Kehle prangt ein Löwenkopf. „Mein Sternzeichen“, sagt Marco. Eines von unzähligen Tattoos auf seinem Körper. Jedes für sich hat seine Bedeutung. Doch dazu später.

Um Marcos Geschichte zu verstehen, blicken wir zurück in die 1980er-Jahre. Er und seine acht Jahre ältere Schwester wachsen behütet auf. Vater freischaffender Architekt, Mutter studierte Sozialpädagogin mit dänischen Wurzeln. Die Familie bewohnt ein gemütliches Einfamilienhaus in Norderstedt-Glashütte.

Norderstedt: Marcos Vater war alkohol- und spielsüchtig

Marco ist ein anhängliches Kind. Liebt die Natur, den Sommer – und aktiv zu sein! Mit Kumpel Gerrit im Garten zu spielen, auf dem Bolzplatz zu kicken und immer wieder sonntags mit dem Vater im Arriba zu schwimmen.

Er ist 13, als es zu einem Schlüsselerlebnis kommt: „Mein Vater holte mich mit dem Auto vom Fußballtraining ab und fuhr auf einmal in Schlangenlinien nach Hause“, sagt Marco. Der erste Verdacht erhärtet sich. Nachdem die Familie im Haus versteckt zahlreiche Rotweinflaschen findet, kommt das Geheimnis ans Licht: der Familienvater ist Alkoholiker. Nicht nur das. Zur Alkohol- gesellt sich die Spielsucht. Innerhalb kurzer Zeit ist die einst gut situierte Familie hoch verschuldet. Der Vater erkrankt an Lungenkrebs. Er spürt, es bleibt ihm nicht mehr viel Zeit – nimmt alle Kraft zusammen und arbeitet Tag und Nacht. Um so viel Geld wie möglich zu verdienen und wieder gutzumachen, was er der Familie zuvor angetan hat.

Anfangs setzt Marco sonnabends fünf Euro – auf Bundesliga-Tore

2008 stirbt der Vater mit nur 58 Jahren. Da ist der Sohn 20. Und nach Realschulabschluss, Zivildienst in der Rosa-Settemeyer-Stiftung mittendrin in der Ausbildung zum Sport- und Fitnesskaufmann. Auch bei Marco sitzt das Geld locker. Ein durchlaufender Posten. „Bargeld in der Tasche zu haben, fühlte sich an wie ein Feuer, das brennt und gelöscht werden muss, um nicht mehr weh zu tun. Hatte ich es ausgegeben, war ich erst mal ruhig“, erinnert sich Marco.

In der Zeit fängt auch er an zu spielen. Erst ab und zu, sonnabends. In dem Winterhuder Wettbüro vis-à-vis der Wohnung, die er mit seiner Lebensgefährtin bewohnt. Er setzt immer fünf Euro – auf Bundesliga-Tore. Die anfänglichen Gewinne machen Lust auf mehr. „Relativ schnell habe ich meiner Ex-Partnerin nicht mehr erzählt, wenn ich rübergegangen bin“, sagt er. „Und angefangen, sie zu bestehlen.“

Norderstedt: Schließlich schlägt Marcos Freundin Alarm

Im Job kann er seine Sucht geschickt verbergen. Doch kaum ist er zu Hause, scheint ihn das Gegenüber wieder zu locken: „Komm Spieler, Spieler komm rüber.“ Jetzt sitzt und setzt er täglich im Wettbüro. Und ist glücklich. Doch sobald er den letzten Euro verspielt hat, kehren Verzweiflung und Scham zurück. Die Freundin schlägt Alarm, wendet sich an die Familie: „Ich glaube, Marco hat ein größeres Problem, als ihr denkt.“

Ein Problem, das weitaus verbreiteter ist als vermutet. Laut Bundesgesundheitsministerium haben gut 500.000 Personen im Alter von 16 bis 65 Jahren ein problematisches oder sogar pathologisches Glücksspielverhalten (Spielsucht). Das umfasst verschiedene Arten des Spielens. Allen voran das Zocken am Geldspielautomaten, gefolgt vom Spielen in Kasinos, von Wetten, Karten- und Würfelspielen.

Pathologisches Spiel ist als Krankheit anerkannt

Und die spülen ordentlich Geld in die Kassen: 2021 umfasste der deutsche Glücksspielmarkt, so die Gemeinsame Glücksspielbehörde der Länder, gemessen an den Bruttospielerträgen ein Volumen von 10,119 Millionen Euro. Dabei lag der Anteil von Sportwetten mit 13,2 Prozent um 18 Prozent höher als noch im Jahr zuvor.

An der Ursache für pathologisches Spielen, das von den Kassen als Krankheit anerkannt ist, wird immer noch geforscht. Vermutlich liegt die Wurzel in der Wechselwirkung der genetischen, psychosozialen und biologischen Einflüsse. Leidet, so die Forschung, ein Elternteil unter Glücksspielsucht, haben die Kinder ein Risiko von 20 Prozent, ebenfalls spielsüchtig zu werden.

Marco fälscht Kontoauszüge und wird zum Onlinebetrüger

Und damit blicken wir wieder hinein in Marcos Geschichte. 2012 trennt sich seine Freundin von ihm. Er zieht in ein Einzimmerapartment nach Barmbek und zockt weiter. Fühlt sich immer rastloser, haltloser, hilfloser. Zahlt keine Miete mehr. Ignoriert Mahnungen. Und verliert mit der Zwangsräumung auch die ihm so wichtigen Erinnerungsstücke an gute Zeiten. Zeiten, die geprägt waren von Struktur, Disziplin und Erfolg. Wie die hart erarbeitete Medaille aus dem Jahr 1999, die Marco und das Norderstedter Handballteam als Sportler des Jahres auszeichnete.

Wieder sucht er Halt bei einer Frau. Zieht mit ihr zusammen, nutzt sie von Beginn an aus. Betrügt, manipuliert, fälscht Kontoauszüge. Um seine Spielsucht weiter zu bedienen, bestellt Marco auf ihren Namen Technikartikel, die er schnell wieder zu Geld macht. Und rutscht damit immer tiefer hinein in den Onlinebetrug.

Hilfe findet Marco beim Suchthilfezentrum BOJE

Auch diese Beziehung geht in die Brüche. Marco, mittlerweile mehrfach vorbestraft und bis auf die Familie, die zu ihm hält, gesellschaftlich isoliert, sucht 2016 Hilfe im Hamburger Suchthilfezentrum BOJE. Mit dem klaren Ziel, seine Spielsucht loszuwerden, setzt er sich mit seiner Vergangenheit auseinander. Erarbeitet mit professioneller Hilfe sukzessive sein Suchtthema auf. Erlernt Mechanismen, in schwierigen Situationen stark zu bleiben und dem Drang zum Zocken nicht nachzugeben. Drei Jahre ist er spielfrei und arbeitet wieder als Studioleiter einer Fitnesskette.

In Timmendorf trifft er zu dieser Zeit die Liebe seines Lebens. Die beiden ziehen zusammen – in eine gemütliche Wohnung mit Garten im Hamburger Stadtteil Langenhorn. An ihrer Seite: die Hunde Lucy und Nala. „Das war die schönste Zeit meines Lebens. Ich fühlte ich mich endlich angekommen, mein Leben hatte wieder eine Struktur“, sagt Marco.

Norderstedt: Am Ende hat Marco 250.000 Euro Schulden

Die hält nicht lange an. 2019 der nächste Rückfall. Die Spielsucht übernimmt erneut die Kontrolle über Marcos Leben. Und wieder fängt er an zu betrügen. Bestiehlt seinen Arbeitgeber. Das Gericht verurteilt ihn, der mittlerweile 250.000 Euro verspielt hat, zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft. Mit den auf Bewährung ausgesetzten Strafen summiert die sich auf satte sechs Jahre.

Im Februar 2021 tritt Marco seine Haftstrafe in Hamburg an. Zunächst im geschlossenen Vollzug. In seiner 8,6 Quadratmeter großen Zelle hat er viel Zeit nachzudenken. Und aktiv zu werden. Er beginnt, Körper, Geist und Seele zu stärken: mit regelmäßigen Body-Workouts, mit Meditation, Achtsamkeits- und Konzentrationsübungen. „In den Freistunden bin ich gejoggt, um ein wenig das Gefühl von ,Freiheit’ zu haben“, sagt Marco.

In der JVA schreibt Marco einen Brief an alle, die er belogen hat

Marco fällt anhaltend positiv auf bei den Verantwortlichen der Justizvollzugsanstalt. Und ist seit Juli 2022 nun im offenen Vollzug in der JVA Glasmoor. Arbeitet 40 Stunden pro Woche in einer Wohngruppe mit Jugendlichen, trainiert wieder „draußen“ im Fitnessstudio und studiert im dritten Semester Soziale Arbeit. „Mit dieser neuen Struktur aus Sozialkontakten, Sport und Studium versuche ich, mich zu resozialisieren. Die brauche ich auch, um zuversichtlich zu bleiben.“

An alle, die er belogen und betrogen hat, hat Marco einen Entschuldigungsbrief formuliert. Dankbar ist er auch seiner Lebensgefährtin, seiner Mutter und Schwester samt Familie, die ihn nie haben fallen lassen. Sie alle hat er auf seinem Körper im Tattoo verewigt. Mutter und Schwester schweben als Engel auf der Brust. Die Partnerin mit ihrem Sternzeichen, dem Steinbock, ziert seinen Daumen, die Namen von Nichte und Neffe sind verewigt auf dem rechten Oberarm.

Norderstedt: Spielsucht – „Ich war ein Lügner, Betrüger, ein Krimineller“

Im September 2024 hat Marco zwei Drittel seiner Haft hinter sich – mit der Aussicht, bei guter Führung vorzeitig entlassen zu werden. Ende 2024 wird er das Fernstudium als Bachelor abschließen. Und durchstarten mit einem Projekt, das er schon jetzt anschiebt: In diesen Wochen wird er mit Unterstützung seiner Familie den Verein „Sport statt Straße e.V.“ gründen. Das Vereinslogo hat er bereits entworfen: ein abstraktes Herz. Sein Ziel: Kindern und Jugendlichen aus allen Schichten das Gefühl von Freiheit zu schenken. Eine Freiheit, wie er sie als Kind erlebt hat: Aktiv in der Natur, beim Toben im Garten oder Kicken auf dem Bolzplatz .

„Vom Fitnesstrainer zum Häftling, vom Häftling zum Sozialarbeiter. Dinge die nicht zusammenzupassen scheinen, fügen sich ineinander. Das ist das Leben. Das ist mein Leben“ sagt Marco abschließend. Er habe sich verziehen und seinen Weg gefunden. „Mit diesem Weg möchte ich zeigen: Jeder kann sich ändern. Ich will ein gutes Beispiel dafür sein.“

Marco informiert auch auf Instagram:

Spielsucht wird laut Diagnosekatalog DSM-V wie folgt klassifiziert:

• Notwendigkeit des Glücksspielens mit immer höheren Einsätzen, um eine gewünschte Erregung zu erreichen.

• Unruhe und Reizbarkeit bei dem Versuch, das Glücksspielen einzuschränken oder aufzugeben.

• Wiederholte erfolglose Versuche, das Glücksspielen zu kontrollieren, einzuschränken oder aufzugeben.

• Starke gedankliche Eingenommenheit durch Glücksspielen (z. B. starke Beschäftigung mit gedanklichem Nacherleben vergangener Spielerfahrungen, mit Verhindern oder Planen der nächsten Spielunternehmung, Nachdenken über Wege, Geld zum Glücksspielen zu beschaffen).

• Häufiges Glücksspielen in belastenden Gefühlszuständen (z. B. bei Hilflosigkeit, Schuldgefühlen, Angst, depressiver Stimmung).

• Rückkehr zum Glücksspielen am nächsten Tag, um Verluste auszugleichen (dem Verlust „hinterherjagen“).

• Belügen anderer, um das Ausmaß der Verstrickung in das Glücksspiel zu vertuschen.

• Gefährdung oder Verlust einer wichtigen Beziehung, eines Arbeitsplatzes, von Ausbildungs- oder Aufstiegschancen aufgrund des Glücksspielens.

• Verlassen auf finanzielle Unterstützung durch andere, um die durch das Glücksspiel verursachte finanzielle Notlage zu überwinden.

Weiterführende Links:

www.spielsucht-therapie.de

www.dieboje.de

www.bundesgesundheitsministerium.de