Norderstedt. 35-Jährige fand in einem Missbrauchsprozess in Norderstedt nach Jahren den Mut, den Täter mit ihrem Leid zu konfrontieren.

Der Prozess um Kindesmissbrauch in Norderstedt hat am letzten Prozesstag eine unerwartete, drastische Wendung genommen. Denn jetzt berichtete auch eine 35-jährige Frau im Amtsgericht davon, dass sie von demselben Täter sexuell missbraucht worden sei. Als Grundschulkind – und über Jahre hinweg. Deshalb wird es jetzt einen zweiten Strafprozess gegen den 54 Jahre alten Norderstedter geben. Der erste Prozess endete am Montag mit einem Urteil.

Der Mann, der aktuell bei einer Zeitarbeitsfirma als Lagerist arbeitet, musste sich seit Februar vor dem Amtsgericht Norderstedt verantworten. Der Vorwurf: Er soll im Jahr 2000 einen damals zwölf Jahre alten Jungen schwer sexuell missbraucht haben, in seiner Wohnung in Norderstedt. Dafür gab es nur einen einzigen Zeugen, nämlich den Geschädigten selbst – einen heute 35 Jahre alten Mann, der im Ausland lebt und nach vielen Jahren die Kraft fand, die Tat zur Anzeige zu bringen.

Amtsgericht Norderstedt: Mutig – Vergewaltigungsopfer offenbart sich im Gerichtssaal

Am Montag sollten nun zwei Schwestern, heute 35 und 33 Jahre alt, vor Gericht als Zeuginnen aussagen. Es ging zunächst darum, ob sie bestätigen können, ob der damals zwölfjährige Junge ihnen von der Tat erzählt habe, sie auch vor dem Täter gewarnt habe.

Die Schwestern lebten damals, etwa in den Jahren von 1996 bis 2001, in einer Art Patchworkfamilie mit dem Geschädigten und dessen Brüdern. Ihre Eltern hatten sich in einem Verein für alleinerziehende Eltern in Norderstedt kennen gelernt. Teil des Freundeskreises, in dem die Kinder gelegentlich bei anderen übernachteten, war auch der Täter und dessen Tochter. Der Angeklagte habe damals als „lieber, guter Mensch“ gegolten und das Vertrauen aller Eltern genossen, hieß es mehrfach und übereinstimmend am Rande des Prozesses, zu dem viele Familienangehörige als Zuschauer kamen.

Zeugin: „Er fragte uns, ob er auch mit uns kuscheln würde“

Und so bestätigte das auch die 33-Jährige Zeugin, eine Architektin, die mit ihrer Familie in Norderstedt lebt. „Wir waren damals wie eine große Familie, eigentlich war alles gut“, sagte sie. Aber dann erzählte sie, dass der Angeklagte es offenbar ganz normal fand, mit seiner eigenen Tochter und weiteren, fremden Kindern in einem Bett zu schlafen. Und sie bestätigte ausdrücklich, dass der zwölfjährige Junge, der für sie wie ein Bruder gewesen sei, vor dem Mann gewarnt habe.

„Er fragte uns, ob er denn auch mit uns kuscheln würde“, sagte die Zeugin. Und erzählte dann, wie der Junge auch den Missbrauch angedeutet habe. Nur habe sie das als zehn Jahre altes Mädchen nicht richtig einordnen können. Und dann brach die zuvor so gefasst wirkende Zeugin in Tränen aus. „Ich schäme mich so, dass ich das damals nicht verstanden habe!“

Zeugin schilderte, dass ihre Schwester als Kind sexuell missbraucht wurde

Aus ihrer Sicht könne heute kein Zweifel daran bestehen, dass die – vom Angeklagten noch immer bestrittene – Vergewaltigung damals tatsächlich passiert sei. Denn auch ihre zwei Jahre ältere Schwester sei betroffen gewesen, die am Montag eigentlich auch als Zeugin vorgeladen war, aber zunächst nicht vor Gericht erschien.

Der Prozess nahm hier, als diese Aussagen aus der 33-Jährigen förmlich herausbrachen, seine entscheidende Wendung. Denn bis dahin hatte es nur einen einzigen Zeugen gegeben – für eine einmalige Tat, die auch mehr als 20 Jahre zurücklag. Aber jetzt schilderte die Zeugin, wie ihre ältere Schwester sich ihr Jahre nach den Taten offenbart habe. Ihr von schrecklichen Erlebnissen erzählt habe, schweren Vergewaltigungen, die sie als Grundschulkind erleben musste, über Jahre hinweg.

Die schweren Straftaten wurden nie bei der Polizei angezeigt – bisher

Das Leben der Schwester sei dadurch schwer beeinträchtigt gewesen, sie habe sich immer wieder in Therapie begeben müssen, auch stationär, in Ochsenzoll. Auch heute noch sei sie in Therapie, werde in einer Hamburger Spezial-Praxis für Missbrauchsfälle betreut. Nur: Die Schwester habe nie die Kraft gefunden, diese nicht verjährten Taten auch bei der Polizei anzuzeigen.

Die Szenen im Gericht waren sehr emotional. Denn es waren Dinge, über die zum ersten Mal öffentlich gesprochen wurde, von denen andere Angehörige nicht gehört hatten. Taten, die nicht strafrechtlich verfolgt wurden – bisher.

Zeugin zum Angeklagten: „Wie kann man kleinen Wesen nur so etwas antun?“

Die Zeugin schilderte, wie sie einmal mitbekam, wie ihre Schwester – damals noch ein Kind – auf Toilette weinte. Die habe wohl „schlecht geträumt“, habe der Angeklagte gesagt. In dessen Richtung sagte die Zeugin jetzt, noch immer weinend: „Wie kann man so kleinen Wesen nur so etwas antun? Kannst du dich nicht wenigstens entschuldigen?“

Doch diese Entschuldigung kam nicht. Der Angeklagte wirkte, wie auch an den anderen Prozesstagen, seltsam regungs- und teilnahmslos. Nach der dramatischen Wendung zog er sich mit seinem Strafverteidiger Jens Hummel zur Beratung zurück. Doch wer nun gehofft hatte, er würde endlich ein Geständnis ablegen und der zweiten Geschädigten die Aussage vor Gericht ersparen, wurde enttäuscht.

„Ich schaff das“, sagte die 35-Jährige vor der Aussage

Und so wurde die zweite Zeugin ins Amtsgericht bestellt, eilends wurde auch eine Prozessbegleiterin dazu geholt, die die Zeugin dann psychologisch unterstützte. Vermutungen, dass die 35-Jährige Hamburgerin nicht die Kraft zu einer Aussage finden würde, im Beisein des mutmaßlichen Täters, bestätigten sich nicht. „Ich schaff das“, sagte die Frau ungewöhnlich gefasst.

Und so schilderte sie dann, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, was ihr passiert ist. Und bestätigte auch die Angaben des Hauptzeugen, wie zuvor schon ihre Schwester. „Ich fühle mich befreit“, sagte sie danach, vor dem Amtsgericht, wo sie umringt von ihrer Familie stand. „Ich wünsche mir, dass ich endlich damit abschließen kann. Ich möchte Heilung für die Seele.“

Urteil: Zwei Jahre Haft, ausgesetzt zur Bewährung

Der Prozesstag endete, nach vielen Unterbrechungen, mit einem Urteil gegen den Täter. Der 54-Jährige wurde zu zwei Jahren Haft verurteilt, ausgesetzt zur Bewährung auf drei Jahre. Er muss auch ein Schmerzensgeld in Höhe von 3000 Euro an den Geschädigten zahlen, außerdem die Prozesskosten tragen. Die Staatsanwaltschaft hatte zwei Jahre und zwei Monate Haft gefordert, ohne Bewährung.

„Es gibt keine vernünftigen Zweifel daran, dass Sie sich eines schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern schuldig gemacht haben“, sagte Amtsrichter Jan Willem Buchert bei der Urteilsbegründung, in Richtung des Angeklagten. Aber es habe auch einige Gründe für eine Bewährungsstrafe gegeben. So sei der Täter nicht vorbestraft gewesen, zudem sei die Tat sehr lange her und habe sich nur sehr kurz, „für einige Sekunden“, zugetragen.

Richter machte klar: Der zweite Missbrauchsfall stand noch nicht zur Verhandlung

Richter Buchert sagte auch: „Aber wir haben heute von einem weiteren Missbrauch gehört. Der stand heute noch nicht zur Verhandlung.“ Wegen dieser noch deutlich schwereren Straftaten wird sich der Mann aber in einem zweiten Verfahren verantworten müssen, wohl auch wieder vor dem Amtsgericht Norderstedt. Zunächst wird die 35-Jährige Hamburgerin das, was sie vor Gericht geschildert hat, bei der Polizei zur Anzeige bringen.

Die Kieler Rechtsanwältin Kerstin Bartsch, die auch den ersten Geschädigten vertrat,, hat sich auch bereit erklärt, die Vertretung der 35-Jährigen zu übernehmen. Auf die Frage, wie sie das Urteil bewerte, sagte sie: „Ich bin zufrieden“. Obwohl nun erstmal nur eine Bewährungsstrafe verhängt wurde, sei der Mann doch verurteilt – darauf sei es ihrem Mandanten angekommen. Kerstin Bartsch: „Für ihn ist die Hauptsache, dass ihm geglaubt wird.“