Norderstedt. Amtsgericht Norderstedt muss klären, ob ein heute 54 Jahre alter Norderstedter vor 23 Jahren einen zwölf Jahre alten Jungen vergewaltigt hat.
Der Prozess wegen schwerem sexuellen Missbrauchs an einem zwölf Jahre alten Jungen sollte eigentlich am dritten Verhandlungstag mit dem Urteil zu Ende gehen. Doch nun will das Amtsgericht Norderstedt unter dem Vorsitz von Richter Jan Willem Buchert Anfang April noch einmal den Hauptbelastungszeugen hören, der heute 34 Jahre alt ist und in der Schweiz lebt und die mutmaßliche Vergewaltigung aus dem September 2000 erst Weihnachten 2019 bei der Polizei in Norderstedt angezeigt hatte.
Auch die Sachverständige aus Stuttgart, die in ihrem Gutachten die Erinnerung des Opfers an die Tat für glaubwürdig erachtete, soll dann erstmals vor Gericht aussagen. Ein Befangenheitsantrag gegen sie wies Richter Buchert als „unbegründet“ zurück.
Amtsgericht Norderstedt: Missbrauchsprozess – kein Urteil, Opfer soll erneut aussagen
Angeklagt ist ein 54 Jahre alter Norderstedter, der damals mit seiner acht Jahre alten Tochter in Norderstedt allein wohnte und sich dort Ende der 90er-Jahre einer Gruppe von alleinerziehender Müttern und Vätern anschloss. Gemeinsam machten sie Ausflüge und andere Unternehmungen mit ihren Kindern und ließen sie auch wechselseitig bei sich übernachten, sagte am Rande des Prozesses der Vater des mutmaßlichen Opfers, der bereits als Zeuge gehört wurde. „Das ging immer reihum“, sagt er und fügt hinzu: „Heute mache ich mir Vorwürfe.“
Verteidiger Jens Hummel hatte angekündigt, dass sich sein Mandant, der bislang vor Gericht geschwiegen hatte, jetzt zur Anklage äußern wolle. Darin bestritt der Norderstedter entschieden den Tatvorwurf der Vergewaltigung an dem Jungen, der, sollte er vom Gericht bestätigt werden, ihm eine Haftstrafe von mindestens zwei Jahren einbringen würde.
Amtsgericht: Vater und Großmutter widersprechen dem geschilderten Zeitablauf
Es sei zwar richtig, dass die Brüder Pascal und Sascha öfter in seiner Wohnung übernachtet hätten, auch in seinem „Ehebett“. Dies sei aber vor dem Einzug seiner späteren Ehefrau gewesen, die am 3. Oktober 1999 zu ihm gezogen sei. Daran erinnere sich noch genau. „Das war Tag der Deutschen Einheit. Da hatte ich frei.“ Auch an einen Ausflug an die Havel könnte er sich erinnern, sagte der angeklagte Kay O.
„Wenn so ein Vorfall gewesen wäre, hätte ich daran eine Erinnerung“, sagte der Angeklagte zum Tatvorwurf. „Aber ich habe keine Erinnerung.“ Vater und Großmutter, die die Verhandlung im Gerichtssaal verfolgten, widersprechen dem geschilderten Zeitablauf. „Der bringt die Zeiten völlig durcheinander. Da vertut er sich um ein, zwei Jahre“, sagt der Vater.
Amtsgericht: Wo war die spätere Ehefrau des Angeklagten?
Die Ehefrau des Angeklagten habe er erst später, kurz vor der Einführung des Euros Ende 2001 kennengelernt. Das wisse er noch ganz genau, weil er da die ersten Münzenpäckchen bekommen habe.
Auch die Arbeitsbescheinigungen der damaligen Ehefrau des Angeklagten widersprächen diesen Zeitangaben, sagt Kerstin Bartsch, die als Anwältin die Nebenklage des Opfers vertritt. Die Frau sei demnach noch bis Mitte 2001 ganz woanders bei ihrem vorherigen Lebensgefährten angestellt gewesen. Darum könnte sie zum Tatzeitpunkt gar nicht in der Wohnung des Angeklagten gelebt haben.
Missbrauchsprozess: Opfer offenbarte sich erst Weihnachten 2019
Vater und Großmutter, denen sich das Opfer erst beim Familientreffen zu Weihnachten 2019 erstmals offenbarte und vom erlittenen Leid aus der Kindheit erzählte, erklärt sich jetzt im Nachhinein dessen verändertes Verhalten. Plötzlich sei er wesensverändert und depressiv gewesen und habe sich selbst verletzt. Aber sie hätten das nicht mit sexuellem Missbrauch in Verbindung gebracht.
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Zumal kurz darauf ADHS bei dem Jungen diagnostiziert wurde. Pascal habe sich damals nicht dazu geäußert. „Er hat das in sich reingefressen.“ Erst nach einer Psychotherapie 2014 habe er sich plötzlich wieder an die Vergewaltigung erinnert und sich seinen Ärzten und seiner Frau nach Selbstmordversuchen dazu bekannt.
Amtsgericht Norderstedt: Missbrauchsprozess wird im April fortgesetzt
Verteidiger Hummel glaubt, in der ADHS-Krankheit des Opfers liege die Ursache für dessen Depressionen und Suizidgedanken. Das möchte er durch ein medizinisches und psychiatrisches Gutachten klären lassen. Dass der Junge erst Tage nach dem angeblichen Analverkehr mit dem Angeklagten starke Schmerzen verspürte, halte er für „unrealistisch“. Darum ist er der Ansicht, es handele sich beim Opfer um eine „Schein-Erinnerung“, die nur einer falschen verdrängten Erinnerung entsprungen sei.
Über diesen Antrag hat das Schöffengericht noch nicht entschieden. Der Prozess wird fortgesetzt. Wegen des damaligen Alters des Opfers wäre die Tat erst 2026 verjährt.