Norderstedt. Die Literaturkritikerin stellt in der Stadtteilbücherei Garstedt ihre Favoriten vor und amüsiert sich über Medienhypes.
Zwei Medien-Hypes hakte Annemarie Stoltenberg bei ihrer Vorstellung der neuesten Frühjahrsbücher in der Garstedter Bücherei in Norderstedt gleich zu Beginn kurz, prägnant und süffisant ab – das sensationell mit 150.000 Exemplaren auf den Büchermarkt geschwemmte Buch „Noch wach?“ von Benjamin von Stuckrad-Barre und den damit verquickten Skandal um die Veröffentlichung entgleister WhatsApp-Nachrichten von Springer-Chef Mathias Döpfner, der damit „Noch wach?“ zum grandiosen Erfolg verhalf.
Die 150.000 Bücher waren sofort ausverkauft – ein Traum für alle Verlage. „Dachte Döpfner wirklich, seine WhatsApps seien privat?“, fragte Annemarie Stoltenberg noch rhetorisch und – Thema durch. 18 Neu-Erscheinungen des Buchmarkts stellte die Literatur-Kritikerin, Journalistin und Autorin vor. Sie gab jeweils eine sehr empathische Übersicht über Inhalt und Roman-Figuren, eine knappe Kritik und erzählte manchmal auch die Entstehungsgeschichte des Romans. Die mehr als 50 Zuhörerinnen und Zuhörer hörten ihr aufmerksam zu, und viele machten sich Notizen auf der Bücherliste, die das Bücherei-Team für das Publikum erstellt hatte.
Tipps in Norderstedt: Annemarie Stoltenberg über die besten Bücher in diesem Frühjahr
Annemarie Stoltenberg faszinierte das Publikum wieder einmal mit ihrer wunderbar trockenen und humorvollen Art, die Personnage der Autorinnen und Autoren zu charakterisieren. Alle Inhaltsangaben waren trotz ihrer Kürze von innerer Anteilnahme an den Geschichten geprägt. Spürbar folgt sie bei ihren Buch-Präsentationen einer eigenen, stimmigen Regie. Dabei pickt sie auch immer wieder besondere Sätze hervor. beispielsweise „Regenwürmer sind die Poeten des Erdreichs“ aus dem ersten vorgestellten Titel „Dein Fortsein ist Finsternis“. Dessen Autor Jón Kalman Stefánsson lobte Annemarie Stoltenberg als Literaturnobelpreis-verdächtig: „Er beschreibt Momente, in denen sich Lebenslagen entscheiden“, sagte sie über den Band mit mehreren Erzählungen aus Island (Verlag Piper, 544 Seiten, 25 Euro).
Mit Friedrich Christian Delius’ „Darling, it’s Delius“ stellte die Literatur-Expertin einen ihrer Lieblingsautoren vor und las die rührende Geschichte „Augen 1983“ über die Geburt seiner Tochter (Rowohlt, 320 Seiten, 24 Euro). Mit Arno Geiger und seinem Roman „Das glückliche Geheimnis“ sprach sie über einen Autoren, der Papier-Container durchwühlte und so manch Erzählenswertes fand, vor allem Briefwechsel. „Arno Geiger ist auch so ein wunderbar sympathischer Bursche“ sagte Stoltenberg und berichtete von dessen drängender Frage, ob man fremde Briefe überhaupt lesen dürfe, auch wenn sie schon weggeworfen worden waren.
Lesenswert: Eine Ukrainerin schildert die Kindheit in Odessa
In „Sommer in Odessa“ schildert die Ukrainerin Irina Kilimnik ihre Kindheit in der wunderbaren multireligiösen und multinationalen Stadt Odessa mit ihren Stränden und Gassen. „Es ist aber durch den Großvater auch ein Buch über eine Stammhalter-Verehrung“, sagte Stoltenberg und erwähnte, dass auch sie unter ihrem älteren Bruder litt, dem als Erstgeborenen ein Radio geschenkt wurde und ihr nicht. „Vielleicht bin ich deshalb später zum Rundfunk gegangen“, sagte sie leicht ironisch und lobte das Buch als „eine echte Entdeckung“ (Verlag Kein und Aber, 288 Seiten, 24 Euro).
Ein Buch, das „in einem Leben grundsätzlich schlechte Laune produziert“, aber trotzdem unbedingt lesenswert sei, stellte sie mit „Keine gute Geschichte“ von Lisa Roy vor: „Wenn einer Kakteen sammelt, ist das schon eine Botschaft“. Es geht um eine Flower-Power-Großmutter und ihre arbeitssüchtige Enkelin (Rowohlt Verlag, 240 Seiten, 22 Euro). Als „sehr komisch“ stufte Stoltenberg „Dinner mit den Schnabels“ von Toni Jordan ein (Verlag Thiele & Brandstätter, 360 Seiten, 22 Euro).
Fernost-Kultur: Über Einsamkeit und ungewöhnliche Orte in Japan
Einen „warmherzigen Ton“ bescheinigte sie Robert Seethalers „Das Café ohne Namen“ (Claassen Verlag, 288 Seiten, 24 Euro), als „Nordsee-Krimi der gehobenen Art“ lobte sie „Going Zero“ von Anthony McCarten, und mit „Man riecht die Nordsee auf jeder Seite“ stellte sie Mathijs Deens „Der Taucher“ vor, der die moderne Seeräuberei gesunkener Container beschreibt (Verlag mare, 320 Seiten, 22 Euro).
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Für Japan-Fans empfahl sie Milena Michiko Flašars „Oben Erde, unten Himmel“, in dem die japanische Kultur eine große Rolle spielt. „Es ist eine ungewöhnliche Geschichte an ungewöhnlichen Orten, die auch das einsame Sterben beschreibt, und die Menschen, die voll Respekt die Wohnungen der Toten aufräumen“, sagte die Literatur-Kritikerin und lobte „eine großartige Autorin“ (Verlag Wagenbach, 304 Seiten, 26 Euro).
Annemarie Stoltenberg: In ihrem eigenen Buch schreibt sie über das Großeltern-Glück
Einen weiteren Roman über die Großschriftsteller-Familie Thomas Mann hat Kerstin Holzer mit „Monascella – Monika Mann und ihr Leben auf Capri“ vorgelegt, in dem endlich die ungeliebte Tochter Monika gewürdigt wird, so Annemarie Stoltenberg (dtv, 208 Seiten, 22 Euro). Über Deutschlands Schicksalsjahr 1943 schrieb Oliver Hilmer in „Schattenzeit“, dem Stoltenberg „zuverlässig in den Details“ attestierte (Siedler Verlag, 300 Seiten, 24 Euro).
Ihre große Freude an den Enkelkindern hat Annemarie Stoltenberg in einem eigenen Buch beschrieben. In „Vom Glück, Großeltern zu sein“ gibt sie eine literarische Liebeserklärung an alle Großeltern, darunter nicht nur eigene und heutige Erinnerungen, sondern auch die von Heinrich Heine, Johann Wolfgang von Goethe, Theodor Storm, Heinrich Böll bis zu Michael Seufert, ihrem Ehemann.