Wulksfelde. Stolpersteine erinnern jetzt auf dem Biohof an eine polnische Zwangsarbeiterin und ihr Kind – dank einer unermüdlichen Frau.
Gold glänzend liegen die Stolpersteine in der Einfahrt zum Gut Wulksfelde. Inmitten von ganz normalem Kopfsteinpflaster auf öffentlichem Grund. Sie geben zwei Menschen einen Namen und somit eine Identität wieder. Beide heißen Czeslawa Jaglinski. Während die eine den Horror des NS-Regimes überlebte, starb die andere am 23. April 1945 um 9.30 Uhr auf Gut Wulksfelde. Als Todesursache notierten die NS-Ärzte „Ernährungsstörung“. Doch sie ließen Czeslawa Jaglinski einfach verhungern. Einen Tag vor ihrem Geburtstag. Vor ihrem ersten Geburtstag.
Die beiden golden Steine erinnern an Mutter und Tochter, die vor 78 Jahren Unsägliches auf dem Gutshof erleiden mussten. Margot Löhr hat die Stolperstein-Verlegung initiiert. Sie wollte auch den Biohof Wulksfelde für eine Patenschaft für die Stolpersteine gewinnen. Das indes wurde abgelehnt, doch ansonsten stand Geschäftsführer Hauke Rüsbüldt der Stolperstein-Verlegung positiv gegenüber und empfahl vor laufender NDR-Kamera auch einen entsprechenden Platz direkt vor dem Gutshaus.
Geschichte: Baby Czeslawa – Nazis ließen sie in Wulksfelde verhungern
Spontan hat Dr. Rita Bake, die als Mitherausgeberin der Stolperstein-Bücher eng mit dem Projekt verbunden ist, die Patenschaft übernommen. Somit hat Margot Löhr die Finanzierung der zwei Stolpersteine, immerhin 240 Euro, realisieren können. Profiteur der Zwangsarbeitenden aber war der Gutshof, heute ein Biohof mit dem Restaurant „Gutsküche“ und einem gut frequentierten Bio-Hofladen, der Familien zu vielen Aktivitäten wie Kartoffelsammeln einlädt.
Seit mehr als 20 Jahren setzt sich Margot Löhr dafür ein, dass von der NS-Herrschaft verfolgte, gefolterte und ermordete Menschen wieder einen Namen und eine Stimme erhalten. In den letzten Jahren hat die 71-jährige Diplom-Psychologin vor allem wieder die Kinder sichtbar gemacht.
Babys waren lästig für die Nazis – sie hielten Gefangene vom arbeiten ab
Menschenleben waren im NS-Regime nichts wert, es sei denn, die Menschen waren den braunen Machthabern nützlich. Das galt erst recht für kleine Kinder, die noch nicht arbeiten konnten, aber ihre Eltern „von der Arbeit abhielten“. Von der Zwangsarbeit. Zwangsarbeiterinnen, die gerade ein Kind geboren hatten, wurden perfide daran gehindert, ihr Baby zu ernähren.
Czeslawa Jaglinski wurde am 24. April 1944 in Lipno (Leipe) in Polen geboren und auf den Vornamen ihrer Mutter getauft. Nur kurze Zeit später verschleppten die NS-Besatzer Polens die Eltern Czeslawa und Jozef Jaglinski mitsamt ihren fünf Kindern Stanislaw, Jerzy, Janina, Halina und die jüngste Tochter Czeslawa nach Norddeutschland. Sie mussten auf Gut Wulksfelde in Tangstedt im Kreis Stormarn Zwangsarbeit leisten.
Baby Czeslawa wurde schließlich in Ohlsdorf beerdigt
Die Familie lebte auf dem Gut Wulksfelde. Doch die Nazis hielten die Ernährungsbedingungen der Zwangsarbeitenden bewusst karg und unzureichend, vor allem für Babys und kleine Kinder. Zudem wurden die Eltern systematisch durch den Zwang zur Arbeit daran gehindert, sich um ihre kleinen Kinder zu sorgen.
Eine Frau namens Gertrud Schrödter aus Wulksfelde zeigte den Sterbefall beim Standesamt mündlich an. In welcher Beziehung sie zum Ehepaar Jaglinski stand, ist nicht bekannt. Czeslawa wurde am 27. April 1945 auf dem Friedhof Tangstedt beerdigt. Nach dem Krieg wurde sie auf den Friedhof Ohlsdorf in der Grabanlage für die „Opfer verschiedener Nationen“ in ein Sammelgrab mit zehn unbekannten Toten umgebettet, Grablage Bp 74, Reihe 36, Nr. 25.
Sie erhielt eine Grabsteinplatte mit ihrem Namen und ihrem Geburts- und Sterbedatum. Ihre Eltern und Geschwister haben das Kriegsende überlebt. 1945 sind sie im Lager Jersbek für polnische Displaced Persons registriert worden.
Margot Löhr fühlt sich verpflichtet, die Nazi-Verbrechen offenzulegen
„Werde ich bei meinen Recherchen mit den ungeheuerlichen Verbrechen der Nationalsozialisten konfrontiert, so ist es mir eine innere Verpflichtung, diese offenzulegen“, sagt Margot Löhr. „Das qualvolle Leid der Kinder und der zur Arbeit gezwungenen Mütter fordert uns auf, gegen Rassismus, Erniedrigung, Unterdrückung und Ausbeutung einzutreten und das Miteinander und Füreinander zu stärken“, sagt Löhr.
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Auch in den Ursprungsdörfern der 1970 aus Friedrichsgabe, Harksheide, Garstedt und Glashütte gegründeten Stadt Norderstedt gab es Kinder von Zwangsarbeiterinnen, die durch vom NS-Regime vorsätzlich unterlassene Versorgung starben. Maria, die Mutter von Stanislaw Dobosz, wurde ebenfalls aus Polen verschleppt und musste an der Quickborner Straße in Friedrichsgabe Zwangsarbeit leisten, heute Norderstedts nördlichster Stadtteil. An der Quickborner Straße befanden sich mehrere große Höfe, darunter an Nr. 118 der Hof des damaligen Bürgermeisters und NSDAP-Ortsgruppenführers Willi Bahde.
Geschichte: Zwangsarbeiter litten auf Bauernhöfen in Friedrichsgabe
Diese und viele weitere Schicksale der Kinder von Zwangsarbeiterinnen veröffentlichte Margot Löhr, gemeinsam mit Rita Bake und Beate Meyer vom Hamburger Institut der Juden in Deutschland als Doppelband in der Buchreihe „Stolpersteine in Hamburg – biographische Forschungen“.
Jetzt sind mit „Stolpersteine in Hamburg: Fuhlsbüttel, Ohlsdorf, Klein Borstel und Langenhorn – Biografische Spurensuche“ zwei neue Bände in der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg erschienen.
Die Gedenkbücher über die vergessenen Kinder sind mit Kartographien und Lager-Plänen ergänzt, die verzeichnen, wo welches Zwangsarbeiter-Lager stand, in welchen Fabriken die Verschleppten arbeiten mussten. Auch Fotografien, darunter die Ansichten von den damaligen Höfen wie in Kayhude, vom Gut Wulkfelde, Faksimiles von Urkunden, Personenregister und ein weiterführendes Literaturverzeichnis machen den Doppelband zu einem wissenschaftlichen Werk, das wie alle anderen Stolperstein-Publikationen im Infoladen der Landeszentrale für politische Bildung, Dammtorwall 1, 20354 Hamburg, gegen eine Gebühr von drei Euro pro Band und über den Buchhandel erhältlich ist.