Bad Segeberg. Neues Buch “Am Fuße des Kalkbergs beleuchtet die Karl-May-Spiele der 1980er-Jahre. Gastautoren sehen vor allem Pierre Brice kritisch.
- Neues Buch "Am Fuße des Kalkbergs" erzählt Geschichte der Karl-May-Spiele
- Winnetou-Darsteller Pierre Brice kommt nicht gut weg
- Gastautoren bemängeln Unnahbarkeit und "endlose Monologe"
Pierre Brice – der Name lässt die Augen der Karl-May-Fans bis heute leuchten. Der „Übervater“ der Segeberger Karl-May-Spiele sorgte vor über 30 Jahren für einen Popularitätsschub, als er von 1988 bis 1991 den Apachenhäuptling Winnetou am Fuße des Kalkbergs spielte. Er legte den Grundstein für einen Erfolg, der bis heute anhält.
Die Autoren Nicolas Finke und Reinhard Marheinecke liefern mit ihrem neuen Buch „Am Fuße des Kalkbergs“ eine Retrospektive des Karl-May-Spektakels in den 1980er-Jahren, wobei die Rolle des legendären Franzosen durchaus auch kritisch beleuchtet wird.
Karl-May-Spiele: Pierre Brice – ein Winnetou-Denkmal wird zerlegt
1980 bis 1990 – das Jahrzehnt war für die Karl-May-Spiele in Bad Segeberg das vielleicht wichtigste in der sieben Jahrzehnte währenden Geschichte dieses Bühnenspektakels, das heute über 400.000 Besucher pro Saison anlockt und mit seiner Außenwirkung inzwischen ganz Deutschland erreicht. Zu Beginn des Jahrzehnts standen die Spiele vor einem Bankrott, am Ende des Jahrzehnts erstrahlten sie in einem bis dahin nie gekannten Glanz.
Aus dem Abstand von 30 bis 40 Jahren lässt sich heute erkennen: Damals wurde der Grundstein für den heutigen Erfolg gelegt. Die Karl-May-Spiele wären vielleicht obskures Provinztheater geblieben, wenn es damals nicht einen Umschwung gegeben hätte, dessen Ausmaße erst viel später erkannt wurden. Die beiden Autoren haben diese Ereignisse recherchiert und aufgeschrieben. Sie haben Experten zu Wort kommen lassen und seltene Fotos in den Archiven gefunden.
In den 1980er-Jahren wurde der Grundstein für den heutigen Erfolg gelegt
Das Hamburger Abendblatt erwies sich dabei als unerschöpfliche Quelle: Nicolas Finke und Reinhard Marheinecke, die beide schon in den vergangenen Jahren diverse Bücher über Karl-May-Inszenierungen in ganz Deutschland geschrieben haben, fanden in den Archiven des Abendblatts und des Ullstein-Verlags zahllose Hinweise und längst verschollen geglaubte Fotos vergangener Aufführungen und Ereignisse am Rande der Aufführungen.
Die beiden Autoren machen schon in ihrem Vorwort deutlich, wie wichtig die 80er-Jahre für die Segeberger Karl-May-Spiele waren – und dass nicht nur Pierre Brice der Auslöser für eine Erfolgswelle war, die alle anderen Karl-May-Inszenierungen in Deutschland irgendwann überrollt hat. „An entscheidenden Schaltstellen der Karl-May-Spiele sind heute Akteure am Werk, die von den Inszenierungen der 1980er-Jahre geprägt wurden“, schreiben die Autoren.
Die Karl-May-Spiele standen kurz vor dem Aus, als Retter kam Klaus-Hagen Latwesen
Zu Beginn des Jahrzehnts, also vor über 40 Jahren, kämpften die Karl-May-Spiele mit einer Reihe von Problemen. Deutliche Zuschauerrückgänge, Probleme hinter den Kulissen, Gerangel um einen alten Intendanten, der nicht weichen wollte, und einen neuen Intendanten, der nicht genau wusste, woran er war. Hinzu kam, dass es in Bad Segeberg politische Kräfte gab, die ganz auf die Karl-May-Spiele verzichten wollten, weil durch sinkende Zuschauerzahlen ein Minus erwirtschaftet wurde.
Als die Spiele schon kurz vor dem Aus standen, wurde der Hamburger Schauspieler Klaus-Hagen Latwesen verpflichtet. Er hatte schon in den 1960er-Jahren Erfahrungen am Kalkberg gesammelt, zwischendurch ein erfolgreich agierendes Tourneetheater gegründet und war daher bereit, die Spiele umzukrempeln und auf Erfolg zu trimmen.
Wie sich die Karl-May-Spiele zum Showtheater entwickelten
Als Intendant, Regisseur, Hauptdarsteller und Autor der Bühnenfassung gelang ihm das gründlich. Finke und Marheinecke beschreiben, dass sein Inszenierungsstil, in dieser Zeit zu so etwas wie einem Markenzeichen der norddeutschen Freilichtspiele avancierte: „Der noch heute bewährte Mix der Festspiele aus rasanten Szenen unter Mitwirkung von Tier und Mensch, humoristischen Einlagen und einer Prise Indianistik und Tanz wurde damals verfeinert, so dass sich die Spiele zum Showtheater entwickelten.“
Gut beschrieben wird in dem Buch „Am Fuße des Kalkbergs“ – es handelt sich um eine erweiterte und aktualisierte Neuauflage eines früheren Buches – der Kontrast zwischen Show und Bürokratie: Als Klaus-Hagen Latwesen zu den fünf oder sechs vorhandenen Pferden einen weiteren „Galopper“ anforderte, gab es ein „Riesentheater“ um diesen Wunsch. „Heute, wo der Reitstall der Spiele nahezu überquillt, ist das damalige Verhalten kaum vorstellbar“, schreiben die Buchautoren.
Pierre Brice neigte zu langweiligen Monologen vom Pferd herunter
Später kam es zum Bruch zwischen der Kalkberg GmbH und Klaus-Hagen Latwesen. Die Gründe dafür wurden nur bruchstückweise bekannt, wohl auch deshalb, weil sie teilweise unterhalb der Gürtellinie liegen. Jedenfalls: Latwesen hatte Erfolg, musste aber trotzdem gehen und wurde zur Persona non grata. Der Ära Latwesen wird in dem Buch ausführlich dargestellt.
Dann kam er: Mit Pierre Brice, der als Winnetou im sauerländischen Elspe ausgemustert werden sollte, vergrößerte sich der Erfolg beträchtlich. Der Franzose wurde umjubelt und gilt am Kalkberg bis heute als Lichtgestalt. Zu Recht? Die Meinungen gehen auseinander. Einerseits war Pierre Brice tatsächlich ein Heilsbringer für die Festspiele, die einen ungeheuren Popularitätsschub erlebten, andererseits litten die Aufführungen unter seinem Mitwirken.
Dünne Storys und ein Star der sich selbst sehr ernst nahm
So empfand es der Filmpublizist Karl-Heinz Becker, heute 75 Jahre alt. „Da wurden dünne Storys entwickelt, und ohne Scham Szenen und Originaldialoge aus den Karl-May-Filmen übernommen“, schreibt Becker in einem Gastbeitrag für das Buch. „Alle Farbe schien aus den Aufführungen gewichen. Spannung war selten geworden, ein Monolog des Apachen jagte den nächsten. Und: Anstelle eines Winnetous zum Anfassen beherrschte nun ein abgeschirmter Star die Bühne.“ Wenig Humor, wenig Action und zumeist „viel, viel Monolog vom Pferd des Apachen herunter“ – das Urteil des Filmpublizisten fällt auch heute noch verheerend aus.
Der damalige Morgenpost-Redakteur Henning Franke kritisiert den Franzosen ebenfalls: „Mein stärkster Eindruck von Pierre Brice war, dass er bierernst daherkam und auch sich selbst furchtbar ernst nahm“, schreibt Franke in seinem Beitrag für das Buch. Zu der Aufführung „Der Schatz im Silbersee“ im Jahre 1989 schreibt er: „Die Karl-May-Figuren waren Fremdkörper in einem Stück zu dem sie nicht gehörten.“ Die Textfassung zu dem Stück stammte übrigens von Pierre Brice.
Die Autoren legen noch ein zweites Karl-May-Buch vor
Wer sich für die Geschichte der Karl-May-Spiele in Bad Segeberg interessiert und Erkenntnisse vertiefen möchte, kommt an dem Buch „Am Fuße des Kalkbergs“ nicht vorbei. Die Autoren Nicolas Finke und Reinhard Marheinecke haben aber noch mehr zu bieten: Der kürzlich erschienene zweite Band ihrer Buchreihe „Karl May auf der Bühne“ widmet sich der Geschichte der zahlreichen Karl-May-Inszenierungen an klassischen Theatern im gesamten deutschsprachigen Raum und darüber hinaus.
- Komparsen gesucht! Einmal an Winnetous Seite reiten
- Karl-May-Spiele: 14 Darsteller spielten Winnetou – einer brachte den Erfolg
- Klaus-Hagen Latwesen, der Winnetou der Neuzeit
Bad Segeberg spielt dabei auch eine Rolle: So stand ein Teil des Segeberger Ensembles 1953 auf der Bühne des Hamburger Theaters am Besenbinderhof, um dort „Winnetou“ zu spielen. Die Segeberger Karl-May-Macher legten aber Wert auf die Feststellung, dass beide Inszenierungen nichts miteinander zu tun hätten. Eine entsprechende Presseerklärung ließen sie über das Hamburger Abendblatt verbreiten.
Nicolas Finke und Reinhard Marheinecke: „Am Fuße des Kalkbergs. Das Bad Segeberger Karl-May-Spektakel in den 80ern. Eine Retrospektive“. Verlag Marheinecke, Hamburg. 180 Seiten, Großformat, ISBN 978-3-932053-61-0, 35 Euro.
Nicolas Finke und Reinhard Marheinecke: „Karl May auf der Bühne“, Band 2, Karl-May-Verlag Bamberg, Radebeul, 400 Seiten, Großformat, ISBN 978-3-7802-0144-7, 59 Euro.