Bad Segeberg. Segebergs Stadthistoriker Axel Winkler entlarvt in seinem Buch viele Legenden um den „Mann mit dem dunklen Hut“.
Sein Plan war ursprünglich ein ganz anderer: Axel Winkler wollte eigentlich ein Buch über die Segeberger Familie Levy schreiben. Über Jahre hat er die Geschichte der jüdischen Familie erforscht und archiviert. „Aber plötzlich erhielt ich von Jean Labowskys Nichte Edith in den USA und seiner 1947 geborenen Enkelin Susanne Schwarz zahlreiche, mir bislang unbekannte Unterlagen, die das Leben von Jean Labowsky in ein völlig neues Licht setzen“, sagt Axel Winkler.
Mehr noch: Segebergs Stadthistoriker entdeckte derart viele Unstimmigkeiten zu dem Bild, das die Stadt bisher über den wohl bekanntesten Segeberger Juden gezeichnet hat, dass er seine Recherchen intensivierte. „Ich konnte dank der Enkelin Dokumente, Postkarten und Fotos einsehen und kopieren, ich bekam einen richtig guten Zugang zu Jean Labowsky und merkte, wie sehr die Segeberger ihn und seine Lebensgeschichte bisher missbraucht haben“, sagt der pensionierte Geschichtslehrer. Die Stadt Bad Segeberg habe das Leben des Juden Jean Labowsky bisher nicht als Opfer dargestellt, sondern sich selbst als seine Retterin.
Judenverfolgung: Wie Jean Labowsky die NS-Zeit in Segeberg wirklich überlebte
Diese Diskrepanzen zwischen den Lebensdaten Jean Labowskys und der Segeberger Legendenbildung hat Axel Winkler im Vorwort seines Buches „Der Mann mit dem dunklen Hut – Jean Labowsky und seine Familie“ (Selbstverlag) dargestellt. „Das Buch ist die Basis, ihn zu rehabilitieren“, sagt Winkler.
Beispielsweise die Legende, dass Jean Labowsky mit Segebergs SS-Kreisleiter Werner Stiehr, auch Stellvertreter des gefürchteten Gauleiters Hinrich Lohse, gemeinsam zur Schule ging und dieser ihn dann vor seinen eigenen Juden-Jägern beschützte. „Das ist völliger Unsinn“, sagt Winkler und erläutert: „Labowsky ist Jahrgang 1891. Stiehr wurde 1905 geboren, sie können also niemals gemeinsam eine Schule besucht haben.“
Jean Labowsky lebte in ständiger Angst vor der Deportation in die NS-Todeslager
Hingegen lebte Jean Labowsky in ständiger Angst vor der Deportation in die NS-Todeslager, in denen die Nazis zwei seiner Geschwister ermordeten, Walter am 8. März 1944 im KZ Theresienstadt, Walters Ehefrau Alice und Margaretha am 5. Februar 1943 in Auschwitz. Seine Schwester Irma konnte rechtzeitig in die USA fliehen. Darüber aber hat er stets geschwiegen. Wie fast alle Jüdinnen und Juden der ersten Schoa-Generation. Zu groß ist das Trauma der Erinnerung, Entwürdigung und Qualen.
Jean Labowsky war durch seine Ehefrau Minna, geborene Saggau, geschützt, denn sie war „Arierin“. Ihrer Treue verdankte er sein Leben. Jean Labowsky war 1943 der letzte Segeberger Jude. Alle anderen, die Levys und Baruchs, die Beers, Seligmanns und Löwensteins wurden ermordet oder konnten noch rechtzeitig vor dem NS-Rassenwahn fliehen.
Judenverfolgung: Über die NS-Zeit hat Jean Labowsky nicht gesprochen
Nach der Befreiung Deutschlands vom NS-Regime setzten die Briten Jean Labowsky als Stadtdirektor ein, auch weil er Englisch und Französisch sprach. Ein Schock für die Alt-Nazis. Im Januar 1950 führte Schleswig-Holstein eine neue Gemeindeordnung ein, und auch Bad Segeberg wählte den Bürgermeister, allerdings nicht die Bürgerinnen und Bürger, sondern die politischen Gremien. Bis dahin führte Labowsky die Segeberger Verwaltung. Bisher hieß es in der Stadt, er sei nicht zur Wahl angetreten.
Doch er stellte sich sehr wohl zur Wiederwahl und konnte auf viele Stimmen hoffen, doch kurz vor dem Wahltermin holten sich einige Vertreter des Segeberger Stadtrats einen jungen Mann namens Walter Kasch aus Malente als Kandidaten. Und der gewann. Jean Labowsky unterlag mit sechs zu 13 Stimmen, wie es sogar in den städtischen Protokollen nachzulesen ist. „Man arrangierte seinen kommunalpolitischen Tod“, schreibt Axel Winkler.
Jean Labowsky war sehr beliebt in der Stadt
Während Jean Labowskys Amtszeit als Bürgermeister lebten in Bad Segeberg 6000 Einheimische und dazu 6000 Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. „Er hat überall geholfen und war sehr beliebt, doch über die NS-Zeit hat er nie gesprochen“, hat Winkler erfahren. Labowsky blickte in die Zukunft und wollte die Stadt, die ihn so geächtet hat, von der Diktatur zur Demokratie begleiten. „Ich will einfach nicht, dass Segeberg sich als Retter Jean Labowskys ausgibt“, sagt Winkler.
Nicht die Stadt war Labowskys Retterin, sondern seine Ehefrau Minna. Sie war „Arierin“, und „Mischehen“ tasteten auch die Segeberger Nazis bis Mitte des Zweiten Weltkriegs nicht an. Gleichwohl drangsalierten sie Minna Labowsky, sich scheiden zu lassen. Sie widerstand und nahm alle Repressalien auf sich, die nach ihrer Ablehnung, ihren Ehemann der Nazi-Hetze preiszugeben, auch sie und die gesamte Familie trafen, darunter die Töchter Alice und Lisl.
Judenverfolgung: Die 14-jährige Tochter musste Zwangsarbeit in einer Mühle leisten
Beide durften noch die Volksschule abschließen, aber als „Halbjüdinnen“ keine Ausbildung absolvieren. Eine Mitarbeiterin des Arbeitsamtes Neumünster sagte Lisl unmissverständlich, dass die etwas gegen Juden habe. Die 14-Jährige musste Zwangsarbeit in der Mühle von Schafhaus, zehn Kilometer vor Bad Segeberg entfernt, leisten und wohnte bei einer Familie Wendelstorf.
Jean Labowsky wurde zur Arbeit im Straßenbau gezwungen. Doch als die braunen Machthaber auch Jüdinnen und Juden aus „Mischehen“ in die KZs deportierten, versteckte er sich, und das noch im Jahr 1945, kurz vor der Befreiung.
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Er fand erst Unterschlupf bei einem Händler für Tierhäute, indem er sich unter diesen bestialisch stinkenden Häuten versteckte, dann unter den Abfallhalden der Schafhauser Mühle. Seine Tochter Lisl versorgte ihn mit Essen. Wären sie entdeckt worden, wäre das der sichere Tod gewesen.
Judenverfolgung: Axel Winkler geht auch weiterhin neuen Hinweisen zu Labowskys Leben nach
„Als die alte Frau Wendelstorf im Sterben lag, erzählte sie dies alles ihrer Tochter, und die erzählte es Labowskys Enkelin Susanne Schwarz“, sagt Axel Winkler. Seit das Buch auf dem Markt ist, bekäme er immer mehr Hinweise zu Labowsky, der nach seiner gescheiterten Wiederwahl als Kaffeehändler durch die Region reiste.
Zwei Jahre hat Axel Winkler für das Buch recherchiert. Jetzt geht er kontinuierlich jedem neuen Hinweis nach, um das Leben des „Mannes mit dem dunklen Hut“ endlich ganz ins Helle zu rücken. Doch nun schreibt er erst einmal die geplante Dokumentation über die Familie Levy.