Norderstedt. Schauspieler las im Kulturwerk aus „Momo“. Leider störte die völlig überflüssige Live-Musik bei der Lesung die Stimmung erheblich.
Es ist eine endlose Geschichte. Eine Geschichte zum Lesen und Vorlesen, Zuhören und Nachdenken, eine Geschichte, um seiner Fantasie Raum zu geben, und Klänge und Geräusche erfinden, sich tragen zu lassen von einer Erzählung, die so viele Parallelen zu den aktuellen Krisen herstellt. Obwohl Michael Ende seinen Roman „Momo“ bereits 1973 erschienen ist. Vielfach als Kinderbuch verstanden, ist „Momo“ weit mehr als das – es ist ein Lehrstück über die Zeit, ein Lehrstück über das Böse in der Welt, und wie es in diese Welt hineingekommen ist.
Der bekannte Schauspieler Walter Sittler las „Momo“ jetzt im Kulturwerk in Norderstedt, und das Publikum im fast voll besetzten großen Saal hörte ihm gespannt zu. Bis, ja, bis Musiker Stefan Weinzierl alle Anwesenden mit lautesten Paukenschlägen erschreckte.
Norderstedt: Walter Sittler fasziniert das Publikum mit Rezitierkunst
Schon mit Beginn der Lesung erwiesen sich sphärische Klänge von seinem enormen Equipment mit Klangstäben, Pauken, Xylophonen und einem beträchtlichen Percussions-Aufgebot als störend zur nuancierten Rezitierkunst Walter Sittlers, wie mehrere Zuhörerinnen und Zuhörer in der Pause kritisierten.
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Immer wieder riss vor allem das expressive Spiel Weinzierls, obendrein aufgepeppt mit allerlei technischen Finessen und viel Lautstärke, aus der Konzentration des Zuhörens der Momo-Geschichte, die Walter Sittler unglaublich einfühlsam rezitierte, und unterbrach jäh jeden Gedanken, jedes Mitfühlen. Dank der eindringlichen Sprechart Walter Sittlers wäre die Aufführung allemal ohne Musik ausgekommen und wäre um ein Vielfaches erlebnisreicher gewesen.
In dem Roman steckt auch ein gutes Stück Gesellschaftskritik
In „Momo“ geht es um das Geheimnis der Zeit. Gleichzeitig verarbeitete Michael Ende ein großes Stück Gesellschaftskritik, die Kritik der Gier nach einem effizienten Leben, nach Wachstum, nach Macht. Auf der Strecke bleibt die Liebe, bleiben der Mensch und sein selbstbestimmtes Leben.
Allein das kleine Mädchen Momo stellt sich den „Grauen Herren“ entgegen, die den Menschen die Zeit stehlen und Macht über sie ausüben. Die Unterdrücker wiederum entfachen eine Hetzjagd auf Momo. Doch letztlich siegt trotz aller tödlichen Gefahren Momos Liebe zu den Menschen mit Hilfe des Zeit-Meisters Hora und der Schildkröte Kassiopeia. Erschreckend sind die Parallelen zu heute – der „schier endlose Konferenztisch“, um den die letzten der Grauen Herren sitzen, die sich dann gegenseitig umbringen.
Norderstedt: Sittler hauchte jeder Romanfigur auf besondere Art Leben ein
Beeindruckend modellierte Walter Sittler jede Roman-Figur, jede Situation allein mit seiner Stimme, formte Dialoge, als wären zwei Leser auf der Bühne, erhöhte mit geschickt gesetzten Zäsuren die Spannung. Mit fahler Kopfstimme charakterisierte er die Grauen Herren, Tonlage Erich Honecker. Atemlos las er deren Zeitrechnung, meißelte im Dialog zwischen dem Friseur Fusi und einem Agenten der Grauen Herren die Ohnmacht des Friseurs heraus.
Walter Sittler schmeichelte und streichelte mit seiner Stimme, drohte und maßregelte, sprach die Puppe Bibigirl, mit der die Grauen Herren Momo gefügig machen wollen, mit gequetscher Stimme wie ein Automat – als wieder einmal die Musik mit harschem Trommelwirbel Stimmung und Konzentration kappte.
Sittler wechselte die Atmosphäre von Bedrohung zur Entspannung, indem er Meister Hora eine sanfte und wissende Note gab. Eine Rolle aber sprach Walter Sittler ganz natürlich – das Mädchen Momo, die Retterin der Welt.