Kreis Segeberg. Der Historiker Eckhard Heesch untersucht die Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus im Kreis Segeberg.
Der Historiker Eckhard Heesch arbeitet an einem umfangreichen Forschungsprojekt über die Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus im Kreis Segeberg. Das Abendblatt hat mit ihm über die Entstehung und die Ausbreitung der Nazi-Bewegung in der Region gesprochen.
Hamburger Abendblatt: Wann waren die Anfänge des Nationalsozialismus im Kreis Segeberg?
Eckhard Heesch: Wenn man die „Landvolkbewegung“ als ideologischen Wegbereiter des Nationalsozialismus in die Betrachtung mit hinein nimmt, dann sind erste Aktivitäten der Landvolkbewegung im Kreis Segeberg im Januar und Februar 1928 nachweisbar. Der Landwirt Jasper Pohlmann stammte aus Kattendorf und war einer der „Vertrauensmänner“ der Landvolkbewegung im Kreis Segeberg und allein damit „ein Mann der ersten Stunde“ für die Bewegung. Pohlmann war „Sturmbannführer“ des SA-Sturmbannes II/213, dem „SA-Stürme“ in sieben Ortschaften angehörten. Auf seinem Hof befand sich seit 1931 eine SA-Führerschule, die zeitgenössisch dafür bekannt war, besonders aggressive, brutale und skrupellose SA-Schläger hervorgebracht zu haben.
Anfang 1929 hatte Pohlmann bereits eine derart prominente Stellung und Einfluss innerhalb der lokalen NSDAP, dass es ihm gelang, gleichsam als „Multiplikator“ zahlreiche neue NS-Anhänger zum Eintritt in die Partei zu bewegen, viele von ihnen aus der Landvolkbewegung.
Die erste nachweisbare Organisationsstruktur der NS-Bewegung lässt sich spätestens auf den August 1928 datieren. Es handelt sich um die erste NSDAP-Ortsgruppe im Kreis Segeberg, die, vermutlich zunächst als sogenannter Stützpunkt, in der Kreisstadt Bad Segeberg gegründet wurde. Die genauen Gründungszeitpunkte der ersten SA- oder SS-Formationen im Kreis Segeberg sind nicht bekannt. Das erste SA-Mitglied ist gemäß der überlieferten Quellen des Schleswig-Holsteinischen Landesarchivs in Schleswig im Juni 1929 in Lentföhrden nachweisbar.
Sind dabei regionale Schwerpunkte festzustellen?
Regionale Schwerpunkte des Beginns der NS-Bewegung sind beispielsweise die Gemeinde Kattendorf und Umgebung. Ein weiterer Schwerpunkt ist Bad Segeberg, schon allein deshalb, weil sich hier die NSDAP erstmalig als Partei mit einer Niederlassung etabliert hat.
Der Buchhalter Werner Stiehr war hier seit September 1939 Ortsgruppenleiter. Stiehr war dann ab September 1930 bis zur Befreiung am 8. Mai 1945 NSDAP-Kreisleiter. Ab 1933 war Eberhard Jeran Ortsgruppenleiter und ab 1937 Otto Gubitz.
Nazis: Kattendorf und Wensin gehörten zu den Hotspots
Eberhard Jeran war einer der Leiter der SA-Führerschule auf dem Hof Pohlmann. Er führte seit März 1930 eine Gruppe von 28 „Artamanen“ auf dem Gut in Wensin, sodass auch Wensin einer der regionalen „Hotspots“ der NS-Bewegung gewesen ist. Bei den Artamanen handelte es sich um eine völkisch-nationalistische Siedlungs-Gruppierung mit fester Verankerung in der NS-Bewegung, die versuchte, vor allem junge Menschen aus den Städten für die Landwirtschaft als Arbeitskraft und als bäuerliche Siedler zu gewinnen.
War der Kreis Segeberg besonders „braun“?
Nach aktuellem Stand der historischen Wahlforschung spricht einiges dafür, dass die NSDAP im Kreis Segeberg im Vergleich mit manchen anderen Landkreisen generell höhere Zustimmungswerte, also bessere Wahlerfolge hatte – mit Ausnahme der besonders „braunen“ Landkreise Norder- und Süderdithmarschen.
Die NSDAP mobilisierte im Kreis Segeberg besonders auf dem Land
Aber auch hier ist zukünftig noch einiges an Forschungsarbeit zu leisten. Nach Betrachtung und Auswertung der NSDAP-Wahlkampf- und Parteiveranstaltungen im Kreisgebiet kann als sicher gelten, dass der Mobilisierungsgrad der Landbevölkerung im Kreis Segeberg und ihr Interesse an der NS-Bewegung sehr hoch war.
In welcher Bevölkerungsgruppe war der Zuspruch besonders groß?
Hinsichtlich der differenzierten Wahlanalysen und der Analysen der NSDAP-Mitgliederstruktur, die bisher vorliegen, waren es in den agrarischen Regionen Schleswig-Holsteins, mithin auch im Kreis Segeberg, vor allem die selbstständigen Landwirte, weniger auch selbstständige Handwerker, unter denen der Zuspruch besonders groß war. Aber auch die bei ihnen abhängig beschäftigten Landarbeiter hatten eine vergleichsweise hohe Affinität zur NS-Bewegung. Vor allem aber unter den arbeitslosen Arbeitern waren die Zustimmungswerte hoch.
Wer waren im Kreis Segeberg die Anführer?
Die bereits genannten Personen gehörten zweifellos zu den herausragendsten und einflussreichsten im Kreisgebiet. Als Ergänzung kann noch Ernst Szymanowski/Biberstein genannt werden. Dabei handelte es sich um einen Pastor der evangelischen Kirche in Kaltenkirchen, der sich selbst als „SA-Pastor“ bezeichnete und im Kreis Segeberg zahlreiche pseudoreligiöse „Fahnenweihen“ und Feldgottesdienste für SA und NSDAP durchführte, wobei er häufig unter seinem Talar eine SA-Uniform trug.
Der Kaltenkirchener Pastor erhöhte die Akzeptanz des Nationalsozialismus
Damit spielte Szymanowski für die NS-Bewegung im Kreis Segeberg eine herausragende Rolle im Sinne einer geistlichen und quasi-göttlichen Legitimierung, was als beabsichtigtes Kalkül die Akzeptanz des Nationalsozialismus bei vielen evangelischen Christen durchaus gesteigert haben dürfte. Mit seiner „bürgerlichen Reputation“ ebnete er ebenso wie andere lokale Eliten wie etwa Lehrer oder Ärzte der Partei als „Milieuöffner“ den Zugang zu neuen Bevölkerungskreisen.
Nachdem Szymanowski seine NS-Karriere in der SA begonnen hatte, war er im Krieg im Rang eines SS-Obersturmbannführers als Führer des Einsatzkommandos 6 der Einsatzgruppe C in Rostow für die Ermordung von 2000 bis 3000 Menschen – überwiegend Juden – verantwortlich.
Wo zeigte sich der Widerstand?
Es gab innerhalb des Kreises Segeberg nur wenige, einzelne Personen, die zumindest im Dissens zum Nationalsozialismus standen. Von wirkungsvollem oder gar organisiertem Widerstand ist bisher nichts bekannt. Als Beispiel sei Dr. med. Franz Boldt genannt, der vom 15. September 1936 bis zum 31. März 1938 Leitender Arzt der Psychiatrischen Anstalten des Landesvereins für Innere Mission in Rickling war.
Er hatte bereits 1933 öffentlich seine Gegnerschaft zur NS-Bewegung bekundet und musste daraufhin seine Praxis in Rehna (Mecklenburg) aufgeben, nachdem die dortige NSDAP-Ortsgruppe die lokale Bevölkerung zum Praxis-Boykott aufgerufen hatte. Boldt hatte überdies während des Krieges durch ein entsprechend günstiges ärztliches Gutachten wesentlich dazu beigetragen, dass Dr. Max Burger vor dem tödlichen Schicksal einer „Bewährungskompanie“ bewahrt wurde.
Ricklinger Chefarzt versuchte, seine Patienten vor dem Tod zu bewahren
Max Burger war 1943 Beteiligter des „Hochverratsunternehmen Manstein“ und wurde daher vom Reichskriegsgericht wegen „Wehrkraft-Zersetzung“ zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und sollte anschließend in eine „Bewährungskompanie“, einer Strafkompanie, an die Ostfront zwangsversetzt werden. Burger musste in den letzten Kriegsmonaten illegal im Untergrund leben und erhielt von Franz Boldt wiederholt eine Unterkunft und finanzielle Unterstützung.
Während seiner Chefarztzeit in Rickling hatte sich Franz Boldt vehement für eine Verbesserung der Versorgung der ihm anvertrauten PatientInnen mit Nahrungsmitteln eingesetzt, nachdem es 1937 zu erheblichen Gewichtsverlusten bei vielen PatientInnen gekommen war, weil der Landesverein die Menge und Qualität der Lebensmittel, durchaus im Konsens mit den administrativen Vorgaben von NS-Behörden reduziert hatte.
Kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen?
Ja, wobei Auseinandersetzungen mit tödlichem Ausgang, wie für andere Landkreise und einige Städte nachweisbar, für den Kreis Segeberg nicht bekannt sind. Es gab jedoch einige Fälle von schwerer Körperverletzung mit teils erheblichen Verletzungsfolgen, die als solche von den nationalsozialistischen Tätern auch beabsichtigt waren. Generell sind gewalttätige Auseinandersetzungen unter Beteiligung von Nationalsozialisten im Kreis Segeberg erst relativ spät beim Landrat oder den Polizeibehörden aktenkundig geworden. Der erste derartig dokumentierte Vorfall von NS-Gewalt geschah am 31. Mai 1930 in Bad Segeberg. Die SA hatte eine Versammlung des sozialdemokratischen „Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold“ massiv gestört und Versammlungsteilnehmer in einer Schlägerei teils schwer verletzt.
Historiker geht von hoher Dunkelziffer bei Gewalttaten aus
Insgesamt sind für den Kreis Segeberg im Zeitraum von Mai 1930 bis September 1932 19 gewalttätige Ausschreitungen der NSDAP, SA und SS von der Körperverletzung bis hin zum Mordversuch dokumentiert. Es ist indessen von einer größeren Anzahl auszugehen, weil angenommen werden muss, dass nicht alle derartige Gewalttaten von den Polizeibehörden verfolgt wurden und damit den Behörden bekannt geworden sind.
Inwieweit haben Polizei und Verwaltungen die „Bewegung“ unterstützt?
Für die Kreisstadt Bad Segeberg und für Bad Bramstedt und Kaltenkirchen ist eindeutig nachweisbar, dass es Kollaborationen und Einverständnisse bis hin zur Zusammenarbeit der Polizeibehörde und der NSDAP und ihren Vertretern gegeben hat. Am 17. Juli 1932 zogen zahlreiche SA-Formationen aus dem Kreis Segeberg und dem übrigen Südholstein nach Altona, wo es bekanntermaßen an diesem „Altonaer Blutsonntag“ zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kam und 18 Personen erschossen wurden.
Der Einsatz der Polizei, an dem auch Polizeikräfte aus dem Kreis Segeberg beteiligt waren, wurde zeitgenössisch als besonders SA-freundlich empfunden. Hingegen gab es auch viele staatsloyale Polizeibeamte und Landjäger, die in den Dörfern beispielsweise das Uniform- oder Versammlungsverbot von NS-Formationen durchgesetzt haben und dabei von der oft bereits nationalsozialistisch geprägten Bevölkerungsmehrheit beleidigt und bedroht worden sind.
Seitens der Polizei in Rickling gab es 1932 auch offizielle Beschwerden wegen der Zusammenarbeit der Bad Segeberger Polizei mit der dortigen NSDAP. Kennzeichnend für ein innerhalb der Bevölkerung des Kreises Segeberg derart wahrgenommenes Zusammenwirken von Polizei als staatlich legitimierter Ordnungsmacht und SA und SS ist ein Zitat aus der Kaltenkirchener Zeitung vom 1. August 1932: “Man vertraut im Volke der Polizei, ganz besonders der Reichswehr und als gewaltiger Rückendeckung nicht weniger der großen braunen Armee Adolf Hitlers.“
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Wann werden Ihre gesamten Untersuchungen vorliegen und wo werden sie erscheinen?
Ich kann derzeit noch nicht genau abschätzen, wann die Studie über den Kreis Segeberg im Zeitraum der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus fertig gestellt sein wird. So habe ich beispielsweise noch nicht alle relevanten historischen Quellen, vor allem die aus Gemeinde- und Kreisarchiven gesichtet und ausgewertet. Erste Verlage haben bereits Interesse bekundet.