Bad Segeberg. 1978 setzte sich die neunjährige Linda Lim gegen 192 Jungen durch und spielte den Apachenhäuptling. Das macht sie heute.
Für Pierre Brice wurde diese Rolle zu einer Lebensaufgabe. Er spielte nicht nur den Apachenhäuptling Winnetou, für viele Fans war er Winnetou. Alle 14 Winnetous spielten sich in der Segeberger Kalkberg-Arena in die Herzen der Zuschauer, aber in der Aufzählung fehlt ein Name: Linda Lim. An sie können sich heute nur noch wenige erinnern, dabei hat sie Karl-May-Geschichte geschrieben: Sie ist weltweit die einzige Frau beziehungsweise weibliche Jugendliche, die diese Rolle übernommen hat.
In der Segeberger Karl-May-Historie wimmelt es von bekannten Namen. Die Helden sind meist markante Männer – manchmal auch Frauen –, die mit der Faust, dem Speer oder dem Gewehr in der Hand auf ihr Recht pochen. Linda Lim passt so gar nicht in diese Reihe illustrer Karl-May-Helden.
Karl-May-Spiele: Winnetou als Frau begeisterte Tausende von Besuchern
Und doch hat sie eine Leistung vollbracht, die am Kalkberg bisher einmalig geblieben ist. In 70 Jahren Karl-May-Geschichte in Bad Segeberg war sie der einzige weibliche Winnetou. Im Alter von neun und zehn Jahren hat sie zweimal diese Rolle gespielt, um die sie Tausende anderer Kinder beneideten. Der weibliche Winnetou spielte sich in die Herzen zu Zuschauer.
Winnetou: Aus Linda Lim wurde die Oberärztin Dr. Linda Flynn
Linda Lim heißt heute Linda Flynn. Sie lebt an der Nordseeküste und rettet, genau wie Winnetou, Menschenleben. Als Oberärztin leitet sie die Notaufnahme der Klinik Husum. Die ausgebildete Chirurgin mit Doktortitel erinnert sich gerne an die Jahre 1978 und 1979 zurück, als in Bad Segeberg ein Kinderensemble zum Einsatz kam, das parallel zu den erwachsenen Darstellern spielte. „Winnetou“ (1978) und „Winnetou II“ (1979) wurde damals gespielt. „Es hat viel Spaß gemacht“, sagt die die Kinderdarstellerin von einst heute. 1980 spielten Kinder noch einmal „Der Ölprinz“, aber in jenem Jahr war Linda nicht mehr dabei.
In den 1970er-Jahren waren die Segeberger Karl-May-Spiele unter Intendant Harry Walther (1928-1988) recht erfolgreich. Mit wesentlich weniger Vorstellungen als heute wurden pro Saison bis zu 160.000 Tickets verkauft. Die damalige Stadtvertretung – die Kalkberg GmbH war zu diesen Zeitpunkt noch nicht gegründet – und Intendant Harry Walther hatten deshalb die Idee, noch mehr Zuschauer anzulocken.
Karl-May-Spiele: Das Kinderensemble sollte noch mehr Zuschauer anlocken
Das sollten vor allem junge Familien mit Kindern sein. Deshalb setzten die Verantwortlichen von damals auf Karl May für Kinder mit Kindern.
Ein Rezept, das recht erfolgreich war. Wenn Linda Flynn zurückdenkt, sieht sie die vollen Zuschauerränge. Natürlich waren damals Laiendarsteller am Werk, das Ergebnis aber konnte sich sehen lassen: Intendant und Regisseur Harry Walter gab sich viel Mühe, um die Aufführungen professionell wirken zu lassen.
Die jungen Darsteller ritten damals auf Ponys
Das waren keine Kindergartenspiele, es ging tatsächlich dramatisch zu am Segeberger Kalkberg. Wobei die oftmals brutalen Kämpfe der Erwachsenen stark abgemildert wurden. Kinder bleiben Kinder, aus edlen Reitpferden wurden Ponys. Aber es funktionierte.
Harry Walther, der auch auf Kindertheater spezialisiert war, arbeitete eng mit dem damaligen Kreisjugendpfleger Helmuth Kühl zusammen. Beide gingen die Sache professionell an. Insgesamt waren etwa 200 Kinder an den jeweiligen Inszenierungen beteiligt. Sie agierten als Schauspieler, Statisten, Tänzer. Kämpfer und Sänger. An diversen Freizeitwochenenden lernten sich die Kinder kennen und wurden spielerisch auf das große Theater vorbereitet.
In verschiedenen Gruppen lernten die Darsteller das Reiten, Tanzen, Singen und Kämpfen
Im Sievershüttener Reitstall von Wilfried Zander, der damals bei den Karl-May-Spielen der Mann für die Pferde und die Stunts war, lernten sie das Reiten, in unterschiedlichen Gruppen lernten sie Tanzen, Singen, Kämpfen. Vor allem aber merkten die Kinder, dass jedes eine bestimmte Aufgabe hat, damit es später zu einem Ganzen zusammengefügt werden und perfekt funktionieren konnte.
Die Besetzung der Winnetou-Rolle stand natürlich im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Dementsprechend groß war der Andrang: 192 Jungen bewarben sich beim Intendanten. Mädchen zeigten offenbar kein Interesse, denn es war eigentlich klar, dass nur ein Junge diese Rolle spielen konnte.
Karl-May-Spiele Bad Segeberg: Linda Lim setzte sich gegen 192 Konkurrenten als Winnetou durch
Da hatten sich alle mächtig getäuscht. Linda Lim gehörte mit ihren neun Jahren zu den jüngeren Kindern, aber sie war bereits aufgefallen, weil sie schon 1977 als Statistin bei den Karl-May-Spielen mitgewirkt hatte. Eigentlich hieß die Devise: Alle spielen alles, aber Linda überzeugte den Intendanten dermaßen, dass er sie sehr schnell mit der Winnetou-Rolle betraute. Die Gymnasiastin machte ihre Sache so gut, dass sie für das folgende Jahr wieder engagiert wurde.
Das Kinderensemble war so beliebt, dass die Nachmittagsvorstellungen ausverkauft waren, erinnert sich Linda Flynn. Schwer gefallen ist ihr das Textlernen und alles andere, was für die Hauptrolle nötig war, überhaupt nicht. „Ich konnte alles gut machen.“ Überhaupt funktionierte damals offenbar alles ziemlich reibungslos. Die jungen Darsteller waren so gut vorbereitet, dass es während der gesamten Saison keine größeren Pannen gab.
Karl-May-Spiele: In einem Tipi saß die kleine Linda dem großen Pierre Brice gegenüber
Gut erinnern kann sie sich auch noch an Pierre Brice, der nach Bad Segeberg kam, um sich die Kindervorstellung anzusehen. „Er hat mich als Winnetou wahrgenommen und mir einmal sogar in einem Tipi gegenübergesessen. Ich habe ihn dann auch noch in Elspe besucht, wo er ebenfalls den Winnetou gespielt hat.“
Die Karl-May-Kinderaufführungen machten auch über Bad Segeberg hinaus Furore. So gastierte das Ensemble 1978 zum Beispiel auch in der Berliner Deutschlandhalle. Hier spielten sie ihr Stück vor Berliner Kindern, die in den Sommerferien nicht verreisen konnten. Eine aufregende Zeit für die kleinen Darsteller.
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Karl-May-Spiele: Die Winnetou-Rolle war für Linda eine Lehre für das ganze Leben
Obwohl sie ihre „Schauspielkarriere“ nach zwei Karl-May-Sommern beendete, um sich anderen Dingen zuzuwenden, hat Linda Flynn doch etwas für ihr späteres Leben gelernt: „Als Mädchen musste ich damals kämpfen und mich durchsetzen. Da gibt es Parallelen zu meinem späteren Beruf: Als ich mit dem Medizinstudium begann, gab es in Deutschland nur wenige Chirurginnen; auch da musste ich mich also durchbeißen.“ Heute ist sie in der Klinik Husum Fachärztin für Chirurgie und Unfallchirurgie.
Die Karl-May-Spiele in Bad Segeberg hat sie schon lange nicht mehr besucht. Das hat sie dann ihrer Tochter und ihrer in Wahlstedt lebenden Mutter überlassen. Ihr eigenes Interesse an den Karl-May-spielen hat im Laufe der Jahre stark abgenommen, aber die Erinnerung an eine schöne Zeit bleibt natürlich. Die Kalkberg-Arena allerdings hat sie in den letzten Jahren immer mal wieder aufgesucht, um Rockkonzerte zu erleben.