Bad Segeberg. Bei den Karl-May-Spielen in Bad Segeberg muss der Chefposten des Indianerhäuptlings für die nächste Saison neu besetzt werden.
Wenn die berühmte Winnetou-Melodie erklingt, ahnen die Zuschauer schon, was gleich geschieht: Im nächsten Moment reitet der edle Häuptling der Apachen in die Segeberger Kalkberg-Arena ein. Nicht irgendwie, sondern dramaturgisch auf den Höhepunkt gebracht. Oben rechts erscheint er. Spot an und dann einmal den Mittelgang entlang quer durch die Zuschauerreihen, auf der anderen Seite den sanft abfallenden Hang herunter in die Arena. Winnetou ist angekommen.
Der jeweils erste Auftritt des edelsten aller Indianer sorgt für Gänsehaut. Jedesmal und immer wieder. Da können sich auch Karl-May-Muffel, die nur ihren Kindern zu Liebe Eintrittskarten gekauft haben, nicht wirklich entziehen. Jetzt ist der Posten des Chefindianers vakant. Die Stelle ist ausgeschrieben, Bewerber dürfen sich melden.
Jan Sosniok hat Winnetou seit 2012 sechsmal verkörpert. Und das hat er recht gut hinbekommen. Mit der nötigen Zurückhaltung, aber einer durchaus stilvollen Aura hat er diese Rolle, die genau genommen nicht viel hergibt, gespielt. Autor Michael Stamp schreibt seit gut 20 Jahren die Bühnenfassungen der Segeberger Karl-May-Spiele, aber es ist ihm bisher nur selten gelungen, der Figur des Apachenhäuptlings Leben einzuhauchen. Alle anderen dürfen in ihren Rollen brillieren, Winnetou ist einfach nur – „da“. Ein paar gestelzte Sätze, weihevolle Blicke in unbestimmte Fernen, ein paar Kampf-Szenen, eine Portion Mut, um einen Adler auf seinem Arm landen zu lassen – das war’s auch schon. Nicht leicht für einen Schauspieler, daraus etwas zu machen. Was letztlich zählt, ist das Charisma. Jan Sosniok hat es, aber nach sechs Jahren wollte er nicht mehr, gab Kostüm, Silberbüchse, Perücke und Pferd ab. Vorgänger Erol Sander ging eher unfreiwillig.
Auf den neuen Winnetou warten große Fußstapfen
Jetzt geht das Team der Kalkberg GmbH um Geschäftsführerin Ute Thienel also auf die Suche nach einem neuen Darsteller. Der künftige 14. Winnetou-Darsteller muss in große Fußstapfen treten, denn jeder seiner Vorgänger hat ein ganz spezielles Erbe hinterlassen. Die Erwartungen der Zuschauer sind groß.
Wer also soll Winnetou 2019 und möglichst der darauffolgenden Jahre werden? Es gibt ein paar Grundvoraussetzungen: Es muss ein Mann sein, weil Experimente und modernes Theater nicht in den Wilden Westen gehören. Zwar werden Hamlet und Peer Gynt gelegentlich von Frauen gespielt, aber bei Winnetou ist das unvorstellbar. Obwohl – es gab da tatsächlich mal ein junges Mädchen als Winnetou-Darstellerin. 1978 und 1979 hat die Segeberger Gymnasiastin Linda Lim in zwei Jugendinszenierungen den Häuptling gespielt. Und das gar nicht mal schlecht, wie sich Augenzeugen erinnern. Aber Uschi Glas als Winnetou? Eher nicht.
Wer dann? Auf eine Anfrage bei der Karl-May-Intendanz gibt es diese Antwort: „Infrage kommen deutschsprachige Schauspieler im Alter von etwa 30 bis 45 Jahren – das machen wir aber letztlich nicht an einer Zahl fest. Wichtig ist, wie der jeweilige Darsteller wirkt. Der neue Winnetou muss sportlich fit, etwa zwischen 1,80 und 1,90 Meter groß, ein guter Reiter und schauspielerisch erfahren sein. Ein prominenter Name ist nicht zwingend erforderlich, aber auch nicht hinderlich. Allerdings muss der neue Winnetou diese berühmte Aura haben, die man sich nicht erarbeiten kann – und er muss im Kostüm einfach gut und überzeugend aussehen.“ Punkt.
Das ist die eine Seite. Ein Schauspieler, der sich entschließt, den vakanten Segeberger Job anzunehmen, muss wissen: Er steht von Mitte Mai bis Anfang September nicht für größere andere Aufgaben zur Verfügung. TV- oder Kinofilme aber werden hauptsächlich im Sommer gedreht. Die wenigen spielfreien Tage in der Woche reichen nicht, um anderen Verpflichtungen im größeren Umfang nachzukommen. Jan Sosniok schaffte es, während der Karl-May-Zeit unter der Woche noch einige Nebenrollen zu spielen, aber da musste er schon mit seiner Zeit jonglieren. Vorgänger Erol Sander haderte gelegentlich mit diesem Problem: „Ich weiß, dass ich für Filmarbeiten während dieser Zeit nicht zur Verfügung stehe, damit muss ich leben“, sagte er einmal in einem Abendblatt-Interview.
Andererseits – und da muss sich niemand schämen – sind manche Schauspieler auch froh, Leerzeiten ohne Engagement in Bad Segeberg zu verbringen. Dreieinhalb Monate festes Einkommen sind für einen freischaffenden Darsteller in mageren Zeiten eine Option. Und die Aussicht, über mehrere Jahre gute Gagen zu bekommen, mag auch so manchen locken. Wenn schon nicht eine TV-Serie über Jahre, so doch wenigstens Winnetou in Serie. Gerne bis zum Lebensende. Oder zumindest bis die Alterswehwehchen nicht mehr zu überspielen sind.
Unter dem Strich müsste der künftige Winnetou-Darsteller also ein bekannter Mann sein, der gerade mal nicht so dick im Geschäft ist und dazu auch steht. Die Auswahl ist begrenzt. Wer fällt spontan ins Auge? Wotan Wilke Möhring vielleicht? Eher nicht, weil seine TV-Karriere gut läuft. Heino Ferch? Der hat sich selbst ins Gespräch gebracht, kommt aber eher als Old Shatterhand oder Gangster infrage. Schweiger, Fitz, Schweighöfer? Nette Ideen, aber illusorisch. Marek Erhardt? Einst ein grandios-fieser Ölprinz, aber wohl kein Winnetou. Interessant wäre ein Mann wie Bernhard Bettermann: Sportlich, gut aussehend, relativ bekannt als Arzt in der Krankenhaus-Serie „In aller Freundschaft“. Wie auch immer: „Ich gehe davon aus, dass wir spätestens im Frühjahr den neuen Winnetou vorstellen“, sagt Ute Thienel. Sie hält Kontakt zu den verschiedenen Schauspieler-Agenturen, ist aber auch offen für Bewerbungen.
Gojko Mitic ist manchmal in kleineren TV-Rollen zu sehen
Die Karrieren der bisherigen Winnetou-Darsteller verlaufen unterschiedlich. Jan Sosniok (2012 bis 2018) will im Fernsehen wieder durchstarten. Erol Sander (2007 bis 2011) spielt seit 2008 den Kommissar Mehmet Özakin in der TV-Serie „Mordkommission Istanbul“. International war er 2016 in dem Film „Snowden“ besetzt.
Gojko Mitic (1992 bis 2006) hat sich als Winnetou unsterblich gemacht. Gelegentlich übernimmt der 78-jährige kleinere TV-Rollen. Pierre Brice (1988 bis 1991) verstarb 2015, ist aber eigentlich unsterblich. Der Winnetou schlechthin. Klaus-Hagen Latwesen (1975, 1976 und 1981 bis 1987) hatte anschließend einige TV-Rollen, hat sich aber weitgehend aus dem Schauspielgeschäft zurückgezogen und lebt zufrieden in seinem zum Wohnhaus umgebauten Hotel in Elbnähe in Altona.
Der Österreicher Thomas Schüler (1977, 1979 und 1980) führte später eine Agentur für Filmrechte in den USA. In Bad Segeberg spielte er den Winnetou stets mit freiem Oberkörper. Er starb 2015. 1971 trat Werner Wachsmuth für eine Saison als Winnetou auf. Über seine weitere Karriere ist nichts bekannt.
Der 2004 verstorbene Heinz-Ingo Hilgers galt in früheren Jahrzehnten als der Winnetou schlechthin. 1961 spielte der geborene Duisburger, der 1948 bei Gustaf Gründgens sein Schauspielexamen ablegte, erstmals den Winnetou. Dann wieder von 1964 bis 1967, 1969 und 1970 und 1973. Diese Rolle prägte sein Leben: Er sprach Winnetou in zahlreichen Hörspielproduktionen, er absolvierte Signier-Tourneen durch deutsche Kaufhäuser und brachte es durch die TV-Aufzeichnungen der Segeberger Spiele zu bundesweiter Popularität.
Das waren die anderen Winnetou-Darsteller, die am Kalkberg in Bad Segeberg den Apachen-Häuptling verkörperten: Hans Jürgen Stumpf (1952), Gerhard Lippert (1953), Horst Vincon (1954), Günter Hofmann (1957 und 1958) und Manfred Boehm (1962).
Die Lücken in den Winnetou-Lebensläufen sind entstanden, weil in früheren Jahrzehnten häufig auch die Orient-Abenteuer von Karl May in Bad Segeberg gespielt wurden. Also Kara Ben Nemsi statt Old Shatterhand und Winnetou.